Rolf Steininger / Rudolf Agstner (Hgg.): Israel und der Nahostkonflikt 1972 - 1976, München: Olzog Verlag 2006, 349 S., ISBN 978-3-7892-6812-0, EUR 29,90
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Rudolf Agstner / Rolf Steininger (Hgg.): Israel und der Nahostkonflikt 1976-1981. Berichte des österreichischen Botschafters Dr. Ingo Mussi, Innsbruck: innsbruck university press 2016
Was die österreichische Botschafterin Johanna Nestor am 10. September 1975 aus Tel Aviv meldete, hatte Seltenheitswert. Seit drei Jahren auf ihrem Posten, hatte die Diplomatin dem Außenministerium in Wien bisher fast nur von Rückschlägen bei der Suche nach einer Friedenslösung für Nahost berichten können. Doch nun schrieb sie von einem "echten Durchbruch". Israel und Ägypten hatten sich im Streit um die Sinai-Halbinsel, die seit dem Sechstagekrieg 1967 von israelischen Truppen besetzt war, auf ein Zwischenabkommen geeinigt: Israel würde sich von den Ölfeldern in Abu Rhodeis und den strategisch wichtigen Pässen Gidi und Mitla zurückziehen; Ägypten gelobte, im Konflikt mit dem jüdischen Staat nur noch friedliche Mittel anzuwenden. Dieser Kriegsverzicht sei eines jener "politischen Elemente", mit denen das Abkommen über bisherige Waffenstillstände zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn deutlich hinausgehe, analysierte Nestor.
Nachlesen kann man die Bulletins der Botschafterin in einem Quellenband, den der Innsbrucker Historiker Rolf Steininger und der österreichische Diplomat Rudolf Agstner herausgegeben haben. Das Buch liefert das dichte Protokoll einer Umbruchzeit im Nahen Osten; wer die jüngste Geschichte der Region verstehen will, wird hier vielfache Einsichten finden. Eine verdienstvolle Publikation also, auch wenn die editorischen Zusätze sparsam ausfallen. Auf kommentierende Anmerkungen wurde ebenso verzichtet wie auf genaue Quellenangaben. Hilfreich ist, dass das Personenregister biografische Daten enthält - ärgerlich, dass sich das Sachregister als sehr lückenhaft erweist. Zusätzlich ergänzt werden die Dokumente durch einen 30-seitigen Bildteil.
Die Veröffentlichung schließt an die 13-bändige Edition "Berichte aus Israel" an, die Schriftstücke von Wiens diplomatischen Vertretern im Heiligen Land aus den Jahren 1927 bis 1972 enthält. Allerdings fehlt diesem Band die repräsentative Ausstattung seiner Vorgänger. Auch der Titel weicht vom großen Editionsprojekt ab. Dabei ist die Formulierung "Israel und der Nahostkonflikt 1972-1976" etwas unglücklich, weil sie nicht erkennen lässt, dass es sich hier um eine Quellensammlung handelt.
Der Titel mag durch eine inhaltliche Besonderheit inspiriert worden sein. Anders als ihre Vorgänger auf dem Botschafterposten widmet sich Nestor in ihren Berichten fast ausschließlich Israels allgemeiner Innen- und Außenpolitik, die damals mehr noch als heute vom Verhältnis zum arabischen Umfeld bestimmt wurde. So gut wie nie behandelt die Diplomatin Fragen der österreichisch-israelischen Beziehungen. Die Herausgeber schließen nicht aus, dass für diese Leerstelle schlicht eine Lücke in der Aktenüberlieferung des Außenministeriums verantwortlich ist. Denn gerade in jener Zeit spielte Österreich, unter Kanzler Bruno Kreisky, durchaus eine wichtige Rolle für Israel. Ab 1974 leitete Kreisky eine mehrjährige "Fact Finding Mission" der Sozialistischen Internationale im Nahen Osten. Für viele Israelis war Kreisky eine Reizfigur, profilierte er sich doch unter den westeuropäischen Regierungschefs als Vorreiter einer Anerkennung von Arafats PLO. Selbst jüdischer Herkunft, bekannte er offen, ein Gegner des Zionismus zu sein.
Von einer solchen Haltung findet sich nichts in den Lageeinschätzungen, die Nestor regelmäßig nach Wien schickte. Bei den abgedruckten 101 Berichten handelt es sich um nüchtern-ausgewogene Analysen. Empathisch und distanziert zugleich erläutert Nestor die Sichtweisen der israelischen Seite. Ihre Texte stecken voller tagesaktueller Details, lassen aber gleichzeitig die großen Entwicklungslinien im Nahostkonflikt sichtbar werden.
Dominierendes Ereignis von Nestors Botschafterzeit war der Yom-Kippur-Krieg. Im Oktober 1973 wurde Israel durch einen Angriff ägyptischer und syrischer Truppen überrascht. Die israelische Armee konnte den Gegner zwar zurückschlagen, hatte aber schwere Verluste hinzunehmen. Ein Großteil der Berichte handelt vom Ringen Israels, mit der politischen, militärischen und psychologischen Hinterlassenschaft dieses Krieges umzugehen.
Erkennbar wird, wie sehr der Oktoberkrieg als Katalysator für tief greifende Veränderungen wirkte. Die widersprüchlichen Folgen sollten 1977 zutage treten, als zwei Ereignisse im Nahen Osten die Welt verblüfften. Das eine war die Jerusalem-Reise des ägyptischen Präsidenten Sadat, die wenig später zum Camp-David-Frieden zwischen Israel und Ägypten führte. Auf dem Weg dorthin bildete das erwähnte Sinai-Abkommen eine entscheidende Zwischenstation.
Nestors Aufzeichnungen zeigen, wie schwer Israel die Annäherung an den Nachbarn fiel. Im Kabinett von Yitzchak Rabin (der 1974 bis 1977 erstmals als Premier amtierte) waren die verständigungsbereiten "Tauben" gegenüber den "Falken" in der Minderheit. Eine Kombination aus Druck, Anreiz und Vertrauensbildung bewegte die Regierung schließlich doch dazu, das Abkommen zu billigen.
Für Druck sorgten vor allem die USA. Die Ölkrise von 1973 - direkte Folge des Yom-Kippur-Kriegs - hatte drastisch die Abhängigkeit des Westens von der arabischen Welt enthüllt. Als Außenminister Kissinger im März 1975 seine nahöstliche "Pendel-Diplomatie" ergebnislos abbrechen musste, kam es zwischen Washington und Jerusalem zu einer schweren Krise, die Nestors Berichte jener Monate beherrscht. In Israel machte sich die Angst breit, Amerikas Finanzhilfe könnte um mehr als die Hälfte gekürzt werden - mit "katastrophalen" Folgen für die heimische Wirtschaft. Zugleich zeigte sich die Ford-Administration bereit, die ökonomische und militärische Unterstützung für Israel im Falle eines Teilrückzugs vom Sinai noch auszubauen. Entscheidend dürfte indes auch gewesen sein, dass die Israelis zur Überzeugung gelangten, in Sadat einen glaubwürdigen Partner zu haben. Er akzeptierte am Ende den von Jerusalem geforderten Gewaltverzicht und bezeichnete den jüdischen Staat öffentlich als "Tatsache im Nahen Osten" (254).
Während der israelisch-arabische Konflikt auf zwischenstaatlicher Ebene zumindest gegenüber Ägypten an Brisanz verlor, verschärfte sich die Palästinenserfrage. Es gehört zu den Vorzügen der Dokumentation, diesen gegenläufigen Prozess greifbar zu machen.
Zwei Versäumnisse Israels im Umgang mit der 1967 besetzten Westbank arbeitet Nestor heraus. Zum einen verpasste man die Chance, ein Arrangement mit Jordanien zu finden, das die Westbank bis zum Sechstagekrieg kontrolliert hatte. Zum anderen unterließ man es, in den besetzten Gebieten rechtzeitig eine politische Repräsentanz der Palästinenser aufzubauen. Damit wurde die PLO, so Nestor, tatsächlich jene "einzige Vertretung der Palästinenser", als welche die arabischen Länder sie 1974 anerkannten - eine Organisation, die damals noch auf die Zerstörung des jüdischen Staates zielte und als Verhandlungspartner für ihn nicht infrage kam.
Stattdessen verlegten sich die Israelis darauf, aus der Besatzungsherrschaft in der Westbank "ein möglichst dauerhaftes Provisorium" zu machen (95). Dies aber stieß auf wachsenden Widerstand - bei den Palästinensern und in der internationalen Politik. Nestors Berichte spiegeln deutlich wider, wie sich die Weltöffentlichkeit ab Mitte der siebziger Jahre dem palästinensischen Anliegen zuwandte.
Anzeichen für ein Umdenken gab es auch auf israelischer Seite. Zwar bestand nach wie vor Konsens, keinen palästinensischen Staat entstehen zu lassen. Doch hatte Rabins Vorgängerin Golda Meir noch verkündet, ein palästinensisches Volk gebe es überhaupt nicht, forderte Außenminister Yigal Allon 1974, die "ethnische und politische Identität der Palästinenser" anzuerkennen (173) - ohne sich damit im Kabinett durchzusetzen.
Für politischen Zündstoff sorgte schon damals der Bau jüdischer Siedlungen auf okkupiertem Grund. Der Band erinnert daran, dass der Beginn der Siedlungspolitik in die Regierungszeit der Arbeitspartei fiel. Einerseits ließen sich Israels Sozialdemokraten in dieser Frage von rechten Minderheiten unter Druck setzen - etwa der Nationalreligiösen Partei, die mit am Kabinettstisch saß. Andererseits plädierten selbst "Tauben" wie Allon aus sicherheitspolitischen Motiven dafür, Siedlungen in strategisch wichtigen Zonen zu errichten. Ergebnis war, bereits 1972, eine "florierende Siedlungspolitik" (54). Von einer religiös-nationalistischen Großisrael-Ideologie sollte sich die offizielle Politik jedoch erst nach der Regierungsübernahme durch Menachem Begin leiten lassen.
Dass mit Begin erstmals der konservative Likud an die Macht gewählt wurde, war das zweite nahöstliche Ereignis, das 1977 die Welt in Staunen versetzte. Man rätselte über die Gründe für dieses politische Erdbeben, das die dreißigjährige Dauerherrschaft der Arbeitspartei beendete. Nestor dürfte kaum überrascht worden sein. Bereits ein Jahr vor der Wahl diagnostizierte sie eine Wechselstimmung mit Rechtstrend in der israelischen Gesellschaft. Dahinter stand eine Glaubwürdigkeitskrise der bisherigen politischen Elite. Ein zentraler Impuls ging auch hier vom Yom-Kippur-Krieg aus, der das Land völlig unvorbereitet traf und Premierministerin Meir wie Verteidigungsminister Mosche Dayan die Ämter kostete. Ihren Nachfolgern mangelte es in den Augen vieler Israelis an Führungsqualität. Dass Rabins erste Amtszeit als Premier eine eher glücklose Episode blieb, hatte nicht zuletzt mit der "beinharten" Rivalität zwischen ihm und Verteidigungsminister Schimon Peres zu tun - einem innerparteilichen Machtkampf, der jahrelang das Regierungshandeln hemmte. Zugleich beschädigten zahllose Korruptionsskandale das Image der Arbeitspartei.
Deren Ansehensverlust führt Nestor 1976 aber auch auf ein strukturelles Problem zurück: Zusammen mit der mächtigen Gewerkschaft des Landes beherrsche die sozialdemokratisch geführte Regierung rund zwei Drittel der israelischen Industrie. Als "Konzern-Inhaber" könnten beide Institutionen in Zeiten wachsender sozialer Spannungen die Interessen der Arbeitnehmer kaum mehr glaubwürdig vertreten. "Daher ist auch der enorme Erfolg der rechten Herut-Partei [Begins Partei, seit 1973 Teil des Likud] in Arbeitergebieten, besonders in den sephardischen Slums, zu verstehen" (287). Tatsächlich gründete Begins Triumph 1977 vor allem darauf, dass es ihm gelang, die Unterschicht der orientalischen Juden als Wählerpotenzial zu erschließen.
Die Begin-Regierung nahm Weichenstellungen vor, die bis heute die politische Landschaft des Nahen Ostens prägen: mit dem israelisch-ägyptischen Separatfrieden wie mit der forcierten Aneignung des Westjordanlands, 1982 zudem mit Israels desaströser Intervention im Libanonkrieg (der 1975 ausbrach und die letzten Berichte des Bandes beherrscht). Johanna Nestor, die ihren Posten in Tel Aviv Ende August 1976 verließ, liefert zu all dem die spannende Vorgeschichte.
Hubert Leber