Rezension über:

Joachim Samuel Eichhorn: Durch alle Klippen hindurch zum Erfolg. Die Regierungspraxis der ersten Großen Koalition (1966-1969) (= Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 79), München: Oldenbourg 2009, 367 S., ISBN 978-3-486-58944-3, EUR 49,80
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Rezension von:
Philipp Gassert
Universität Augsburg
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Philipp Gassert: Rezension von: Joachim Samuel Eichhorn: Durch alle Klippen hindurch zum Erfolg. Die Regierungspraxis der ersten Großen Koalition (1966-1969), München: Oldenbourg 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 6 [15.06.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/06/17448.html


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Joachim Samuel Eichhorn: Durch alle Klippen hindurch zum Erfolg

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Als das Manuskript der hier zu besprechenden Arbeit im September 2008 abgeschlossen wurde (8), da amtierte in Berlin noch die zweite Große Koalition unter Angela Merkel (CDU) und Frank-Walter Steinmeier (SPD). Diese erhielt bei ihrer Auflösung ein Jahr später nur mäßige Noten. Anders ihre Vorgängerin, die erste Große Koalition unter Kurt Georg Kiesinger (CDU) und Willy Brandt (SPD): Dieser sei, so der Autor, nicht erst ex post "das Prädikat 'erfolgreich'" zuerkannt worden (10). Sie gilt als die "erfolgreichste Regierung" der alten Bundesrepublik, ein Konsens der so beängstigend breit geworden ist, dass er eigentlich kritisch hinterfragt werden müsste. Dies aber ist nicht die Absicht des Autors, der sich dem großen Trend anschließt und die positive Einschätzung des Bündnisses Kiesinger-Brandt teilt. [1]

Wenn das zeitgenössische Echo ein Omen ist und sich das Gespann Merkel-Steinmeier in ein paar Jahrzehnten bei Historikerinnen und Historikern weniger großer Beliebtheit erfreuen wird als Kiesinger-Brandt, dann wird dies vermutlich auch damit zu tun haben, dass sich die Kriterien zur Beurteilung des Erfolgs in der Politik seit 1969 so dramatisch verschoben haben. Die realen Möglichkeiten haben sich verschlechtert, mit nationaler Politik überhaupt "etwas zu bewegen". Die erste Große Koalition hingegen ging noch im Hochgefühl der politischen Steuerbarkeit und Planbarkeit gesellschaftlicher Prozesse und Reformen ans Werk. Eventuell ist ja die vielfach anzutreffende rückblickende Verklärung der ersten Großen Koalition auch eine nostalgische Reaktion auf den Abschied vom "Machbarkeitsdenken", der sich in den 1970er Jahren dann einstellen sollte.

In den letzten zehn Jahren ist die erste Große Koalition Gegenstand zahlreicher historischer Untersuchungen gewesen - nachdem sie eine Zeit lang als "vergessene Regierung" apostrophiert worden war. Sie kann nun als gut erforscht gelten. Indes konzentrierten sich die meisten Arbeiten überwiegend auf einzelne Politikerpersönlichkeiten (es gibt u.a. Kiesinger-, Brandt-, Schmidt-, Wehner-, Schiller- und Schröderbiografien), auf einzelne Politikfelder (wie die Außen- und Deutschlandpolitik, die Notstandsgesetze, die Sozialpolitik) oder, wie im Falle der Maßstäbe setzenden Arbeit von Klaus Schönhoven über die Sozialdemokratie 1966 bis 1969 auf eine der beiden großen Regierungsfraktionen (eine Darstellung zur CDU/CSU fehlt nach wie vor). [2] Der Autor will nun mittels einer genauen Analyse der Regierungspraxis der ersten Großen Koalition die Frage beantworten, "wie es Kiesinger sowie der von ihm und Brandt geführten Koalition gelang, die genannten Leistungen zu erbringen" (12) und wo die Kohäsionskräfte dieses "Bündnisses auf Zeit" lagen.

Eichhorn verknüpft eine gründliche und in jeder Beziehung erschöpfende systematische Darstellung der institutionellen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen auf der offiziellen, regierungsamtlichen Ebene (Kanzleramt, Regierung, Bundestag, Bundesrat) einerseits mit einer ebenso erschöpfenden Darstellung der inoffiziellen Gremien (Kabinetts- und Koalitionsausschüsse, individuelle "Koalitionspaare" wie Barzel-Schmidt, Kiesinger-Wehner, Strauß-Schiller) andererseits. Hier ersetzt die vorliegende Studie nun die frühe, lange Zeit verbindliche politikwissenschaftliche Arbeit von Heribert Knorr über den parlamentarischen Entscheidungsprozess. [3] Kommt Eichhorn gegenüber Knorr auch nicht zu revolutionär neuen Einsichten, so sind doch die detailreichen Beobachtungen und vor allem der hilfreiche Anhang, der die Sitzungen und den Teilnehmerkreis der formellen und informellen Gremien umfassend erschließt, in dieser Breite und Dichte unübertroffen.

Von der Auswahl her, auf den ersten Blick jedenfalls, leicht enttäuschend wirken die vier Fallstudien, an denen die Regierungsmechanismen exemplarisch aufgezeigt werden. Es handelt sich um die Notstandsgesetzgebung (die schon mehrfach untersucht worden ist), den nach dem damaligen Verkehrsminister benannten "Leber-Plan", die Finanzverfassungsreform und die Kontroverse um das "Einfrieren" der diplomatischen Beziehungen zu Kambodscha (wegen Anerkennung der DDR). Die ersten drei waren zentrale Politikfelder und Reformvorhaben, wobei jedoch nur die bisher historisch nicht ausreichend analysierte Genese der Finanzverfassungsreform mit ihren den westdeutschen Bundesratsföderalismus verschärfenden unitarischen Tendenzen zu den Projekten mit langfristig strukturmodifizierender Wirkung gehörte. Man hätte bei den Fallstudien die Akzente auch anders setzen können. So ist z.B. die missglückte Wahlrechtsreform, die den heutigen Zwang zu großen Koalitionen angesichts einer sukzessiven Zersplitterung des Parteienspektrums mit Einführung des Mehrheitswahlrechts ein für alle Mal erledigt hätte, bisher nur in Ansätzen untersucht worden. Auch von der Strafrechtsreform gingen nachhaltige Impulse auf die gesellschaftliche Entwicklung der 1970er Jahre aus. Ein anderes Sample hätte unter Umständen wichtige Ergebnisse auch jenseits der engeren Geschichte der ersten Großen Koalition erbracht.

Die Kambodscha-Kontroverse als viertes Fallbeispiel hingegen wurde gewählt, um zu zeigen, wie die Streitschlichtung bis zum Ende funktionierte und dass das nachträglich oft belächelte "Kambodschieren" letztlich unterstrich, dass die "Kunst des Kompromisses" dominierte und die zentralen politischen Akteure letztlich nicht bereit waren, die Koalition wegen dieser doch sekundären Frage platzen zu lassen. In den die historische Wahrnehmung der Großen Koalition lange Zeit stark prägenden Erinnerungen führender Politiker ist ihr Signalcharakter oft übertrieben hoch angesetzt worden. Hier setzt Eichhorn einen wohltuenden Kontrapunkt zu langjährigen Trends der Forschung, die ex post - vor dem Hintergrund der Konflikte um die Ostverträge in den 1970er Jahren - die Kambodscha-Kontroverse überbewertet hat.

Der Autor verfolgt nicht den Anspruch, die Forschung zur politischen Geschichte der späten 1960er Jahre grundlegend zu revidieren. Er arbeitet differenziert heraus, was im Kern schon in früheren Studien angelegt war, dass von einem "einzelnen Entscheidungszentrum der Koalition" nicht gesprochen werden könne (283). Er billigt dem Koalitionsausschuss (dem "Kressbronner Kreis") eine zentrale Funktion zu, sieht aber auch das Kabinett durchaus als verantwortlichen Akteur, mit einer im Zeitverlauf zunehmenden Verlagerung vom Kabinett auf informelle Gremien und die Fraktionsvorsitzenden. Hier hätte man gerne erfahren, ob und bis zu welchem Grade die Phase der Großen Koalition einen Wendepunkt für eine schon zuvor einsetzende Verlagerung der Entscheidungsfindung in informelle Gremien war. Denn das Beispiel, das Kiesinger, Brandt, Barzel und Schmidt gaben, scheint Schule gemacht zu haben.

Weiterführend ist die durchgängig empirisch dichte Einarbeitung des medialen Kontexts als einer das politische Handeln der Koalitionäre massiv prägenden Determinante. Einleitend bricht Eichhorn eine Lanze für die Berücksichtigung des Faktors "Öffentlichkeit". Tatsächlich kann er in den jeweiligen Kapiteln gut zeigen, wie sehr doch die Diskussion, vor allen in den Parteigremien, immer wieder auf das simple Kalkül zurückgeführt wurde, wer "in der Presse" die besseren Noten erzielte und wessen Vorschläge im Volk "nun mal populär" geworden seien, so der Kanzler mit Bezug auf den Leber-Plan (225). So verstand es nicht zuletzt Kiesinger mit Umfragewerten und dem Medienecho virtuos zu hantieren, vor allem um die eigenen Leute bei der Stange zu halten und seine unruhig gewordene Fraktion zu disziplinieren. Daher stellt die Arbeit auch eine mediengeschichtliche Fundgrube dar. Eichhorn sieht in den medialen Strategien der Parteien eine wichtige Grundbedingung für die Stabilität des Bündnisses bis zuletzt, wollte doch keine Seite die im Volk so beliebte Koalition aufs Spiel setzen und den politischen Preis dafür bezahlen (292).

Alles in allem eine gründliche, vor allem quellengesättigte und auf einer erschöpfenden Archivrecherche beruhende Arbeit, die das bestehende Schrifttum ergänzt, aber in einzelnen Aspekten (Mediengeschichte, Fallstudien zum Leber-Plan und zur Finanzverfassungsreform) auch neue historische (Unter-)Kapitel schreibt. Dank der hilfreichen Anhänge und der ausführlichen Quellenzitate wird eine empirisch dichte Basis für die noch fehlende Gesamtdarstellung der ersten Großen Koalition geschaffen, unter deren Dach die ungleichen Partner Kiesinger-Barzel-Strauß und Brandt-Schmidt-Wehner-Schiller für knapp drei Jahre in Bonn mehr recht als schlecht regierten.


Anmerkungen:

[1] Aus Gründen der Fairness sei angemerkt, dass auch meine eigenen Arbeiten die Erfolge der ersten Großen Koalition betonen, vgl. Philipp Gassert: Zweimal Große Koalitionen: 1966 bis 1969 und seit 2005, in: Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, hg. von Hans-Peter Schwarz, München 2008, 97-118.

[2] Klaus Schönhoven: Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966-1969, Bonn 2004.

[3] Heribert Knorr: Der parlamentarische Entscheidungsprozess während der Großen Koalition 1966 bis 1969. Struktur und Einfluss der Koalitionsfraktionen und ihre Verhältnis zur Regierung der Großen Koalition, Meisenheim am Glan 1975.

Philipp Gassert