Margareta Tillberg: Coloured Universe and the Russian Avant-Garde: Matiushin on Colour Vision in Stalin's Russia 1932 (= Eidos; 10), Stockholm: Konstvetenskapliga institutionen, Stockholms universitet 2003, 406 S., (Russische Ausgabe: Cvetnaja vselennaja: Michail Matjušin ob iskusstve i zrenii, Moskau 2008), ISBN 978-91-7265-683-3
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Hilmar Dreßler: "Nach Analogien zu denken ist nicht zu schelten". Studien zu Farbe und Ton in Goethes naturwissenschaftlichem Denken - nebst eigenen Paralipomena, Jena: Glaux 2005
Rolf G. Kuehni / Andreas Schwarz: Color Ordered. A Survey of Color Systems from Antiquity to the Present, Oxford: Oxford University Press 2008
Norbert Welsch / Claus Liebmann: Farben. Natur, Technik, Kunst, 2. Aufl., Amsterdam: Elsevier 2003
Die Forschungen zur russischen Avantgarde haben bis heute noch nicht den Stand erreicht, welcher für ihr "westliches" Pendant mittlerweile üblich ist. Zum einen wurde der Zugang zu vielen Archivalien in Russland erst nach 1990 erleichtert - zum anderen existiert eine Sprachbarriere. Manche Untersuchungen haben sich in der Vergangenheit lediglich auf übersetzte Quellen verlassen. Es ist einer der Vorzüge der Stockholmer Dissertation der Slawistin und Kunsthistorikerin Margareta Tillberg, konsequent von der Autopsie der Originaldokumente ausgegangen zu sein.
Mit ihrer Fokussierung auf die Arbeit des Malers und Komponisten Michail Matjuschin (1861-1934) am Institut für Künstlerische Kultur (GINChUK) in Leningrad leistet sie einen fundierten Beitrag zur "Farbe"-Problematik innerhalb der russischen Avantgarde. Die immer noch lückenhafte Kenntnis Matjuschins führt Tillberg darauf zurück, dass ausländische Forschungen zur nonkonformen Moderne in der Sowjetunion meist unwillkommen waren, während nur wenige inländische Experten das Gebiet erforschten (286). Heinrich Klotz machte in Westeuropa auf Matjuschin nachdrücklich aufmerksam [1], in Russland wurde ihm 2007 eine Ausstellung gewidmet. [2]
Tillbergs Eingangskapitel "Colour" stellt die Farbforschungen Matjuschins und seiner Mitstreiter vor. Sie lassen sich in die Bestrebungen der 1920er-Jahre einordnen, die wissenschaftlichen Grundlagen einer elementaren Gestaltungslehre zu erforschen. Ziel war eine gestaltete Welt, in welcher Design und Massenkunst Vorrang vor der Malerei hatten, die häufig als Versuchsfeld für jene diente.
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das von Matjuschin und seinen Schülern erarbeitete Grundlagenwerk von 1932, "Das Naturgesetz der Veränderlichkeit von Farbkombinationen" ("Zakonomernost' izmenjaemosti cvetovych sočetanij").
Dessen Anhang enthält Farbkarten mit Kombinationen aus insgesamt 90 Farbtönen. Dabei handelt es sich, so Tillberg, um die Darstellung bereits stattgefundener Wahrnehmungsprozesse (etwa von Simultan- und Sukzessivkontrasten) - "by compressing many steps into one image" (105). Sie sind also nicht als Lehrtafeln zum Selbstversuch gedacht, nur eine der vier Mappen enthält Farbkombinationen als Vorlagen für den Gestaltungsprozess. Dies unterscheidet die Matjuschin-Tafeln von den meisten Farbharmonielehren, welche Gestaltungsbeispiele anbieten. Nach Matjuschin erreichen Farben geringer Sättigung erst in großer Flächenausdehnung starke Intensität - angesichts der Rohstoffknappheit eine ökonomische Regel, um mit viel billigem Füllstoff und wenig gesättigtem Pigment große Wirkung zu erzielen. "Verbindende Zwischenfarben" von nur geringer Ausdehnung sollten die gewünschte Wirkung zweier Farbfelder verstärken beziehungsweise erst hervorrufen (108f.).
Matjuschin begründet Intensität und Lebendigkeit der wahrgenommenen Farben mit dem "entspannten Blick", welcher die jeweiligen Umgebungsfarben mitwirken lasse, während der "starre Blick" auf die Dauer - nach Auslösung der jeweiligen Kontrastphänomene - zu stumpfen, "toten" Farben führt. Er versucht damit eine Farbharmonielehre für das bewegte Auge aufzustellen, somit die Zeit als "relativierenden Faktor" (114ff.) zu integrieren. Dies steht im Gegensatz zu den meisten, "statischen" Lehren - und führt schließlich zur Idee der "Farbformen", veranschaulicht anhand von Figuren, welche verschieden gefärbte Kreise nach längerer Betrachtung annehmen (118f.). Solch Dynamismus läßt Kandinskys berühmte Farbe-Form-Zuordnungen einigermaßen simpel erscheinen (121). Einen größeren Abschnitt widmet die Autorin dem Vergleich mit Wilhelm Ostwalds Lehren (121-127): während diese an den Moskauer "Höheren künstlerisch-technischen Werkstätten" (WChUTEMAS) positiv rezipiert wurden, nutzte der Kreis um Matjuschin zwar die Ostwaldschen Farbstandards, für welche es kein russisches Äquivalent gab, verwarf aber dessen Farbordnung und -Harmonielehre als statisch. Tillberg schließt: "Matiushin's system relates whereas Ostwald's classifies and categorizes." Der Künstler propagiert ein alle Sinne umfassendes "erweitertes Sehen", in welchem die Autorin sein Weltbild gespiegelt sieht (289f.).
Das Kapitel "Ideology" enthält den brisantesten Teil der Arbeit: das Schicksal der farbtheoretischen und -praktischen Versuche Matjuschins unter der beginnenden stalinistischen Diktatur. Avantgardistische Institute wie das GINChUK wurden geschlossen, an ihre Stelle die ästhetische Gleichschaltung des "Sozialistischen Realismus" gesetzt. Die Avantgardisten hatten die Revolution meist begrüßt und waren bereit gewesen, sich auf die ideologischen Vorgaben von "Materialismus" und "Wissenschaftlichkeit" einzulassen, wobei hier große Interpretationsspielräume blieben. Unter den nachrevolutionären Umständen reichte dies bei den meisten Künstlergruppen und Kunstschulen aus, um eigenständige künstlerische und pädagogische Konzepte entwickeln zu können. Deren "utopischer Überschuss" trat jedoch in wachsendem Maß in Widerspruch zur Realität eines Staates, welcher sich zur Diktatur einer Kaste von Berufsrevolutionären und Bürokraten entwickelte.
Mit der "Großen Sowjetenzyklopädie" (1931-1947) wurden dann ideologische Prämissen für alle Wissensgebiete zementiert. Der Artikel "Farbe" von Nyberg stellt die Geschichte der Farbentheorie als beständigen Kampf "wissenschaftlicher", "objektiver" Theorien (Newton, Helmholtz, Maxwell, Schrödinger) gegen "subjektive", "unwissenschaftliche" Lehren (Goethe, Hering) dar (240ff.). Diesem Gut-Böse-Schema folgt Alpatow im Enzyklopädie-Beitrag "Farbe in der Malerei" - "vorkapitalistische" und "bürgerliche" Malerei sei, soweit unrealistisch, von "subjektiv-idealistischer" Deformierung der farbigen Wirklichkeit gekennzeichnet, realistische und vor allem sozialistisch-realistische Malerei bilde im Sinn der leninistisch-stalinistischen Widerspiegelungstheorie dagegen die Farben "richtig" ab - "nothing but an objective reflection from objective reality" (246). Maria Ender versucht im Vorwort zum Buch ihres Lehrers, solcherart Realismus als ebenso "mechanistisch" zu brandmarken wie den Farbunterricht an den WChUTEMAS nach Ostwald (251-258). Dessen Farbenlehre bezeichnet sie gar als "metaphysisch" - die schlimmste Beschimpfung unter den Auspizien einer Ideologie, welche sich selbst als die "wissenschaftlichste" verstand (260, 263f.). Angesichts der ideologischen Gleichschaltung war dies ein vergebliches Unterfangen - Matjuschins Ansatz verfiel der allgemeinen Abwertung der "bürgerlichen" Psychologie (242-247). Immerhin gelingt es noch, sein Buch zu veröffentlichen.
Die Autorin weist überzeugend auf, dass Matjuschin als Theoretiker und Lehrer Malewitsch am GINChUK ebenbürtig war - und lange in dessen Schatten stand (286-291). Noch 1991 wurden im Amsterdamer Stedelijk Museum Matjuschins Farbkarten dessen berühmterem Kollegen zugeschrieben, obgleich die Forschung diesen Irrtum seit über 20 Jahren aufgeklärt hatte (275f.). Wie Kandinsky zählte auch Matjuschin nicht zu jenen Künstlern, die die Wissenschaft mieden, weil sie sie als konträr empfanden. Während jedoch Kandinsky die Wissenschaft zur "Objektivierung" doktrinärer Kunstauffassungen gebrauchte [3], nutzte Matjuschin die Wissenschaft zur Mimikry, um unter wachsendem politischen Druck nicht als ideologischer Häretiker aufzufallen (294).
Margareta Tillbergs substantielle und äußerst sorgfältige Studie schließt eine Lücke in den Forschungen zur russischen Avantgarde. Ihr Bestreben, der untersuchten Künstlerfarbenlehre nicht nur durch sorgfältige Recherche, sondern durch Selbstexperimente zur Farbwahrnehmung auf den Grund zu gehen, hebt ihre Arbeit ebenso hervor, wie ihre Behandlung der materiellen Voraussetzungen der Kunst im nachrevolutionären Russland.
Ergänzend sei hinzugefügt, dass es sich bei dem von Tillberg erwähnten Autor (257f.), dessen praktisches Farblehrbuch (in russischer Übersetzung) [4] eine solche Rolle bei den WChUTEMAS spielte, um den österreichischen Physiker und Medienpionier Leopold Richtera (1887-1930) von Eders berühmter "Höherer Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt" in Wien handelt.
Anmerkungen:
[1] Heinrich Klotz (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde (Ausstellungskatalog Karlsruhe, Zentrum für Kunst und Medientechnologie 1991), Stuttgart 1991.
[2] Professor Michail Matjušin i ego učeniki 1922-1926 (Professor Michail Matjuschin und seine Schüler 1922-1926), Ausstellungskatalog des Naučno-issledovatelskij musej, Rossijskaja Akademija Chudožestv, Sankt Petersburg 2007.
[3] Karl Schawelka: Ein systematisches Mißverständnis? Kandinskys Farbenseminar am Bauhaus, in: Hellmuth Th. Seemann / Thorsten Valk (Hgg.): Klassik und Avantgarde. Das Bauhaus in Weimar (= Klassik Stiftung Weimar; Jahrbuch 2009), Göttingen 2009, 85-104.
[4] Leopold Richtera: Die Farbe als wissenschaftliches und künstlerisches Problem, Halle 1924 (russ. 1927 und 1931; 2. Auflage bearb. von Nikolaus D. Nyberg).
Albrecht Pohlmann