Julia Schmid: Kampf um das Deutschtum. Radikaler Nationalismus in Österreich und dem Deutschen Reich 1890-1914, Frankfurt/M.: Campus 2009, 406 S., ISBN 978-3-593-39046-8, EUR 45,00
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Die Nationalismusforschung erkundet ihren Gegenstand in nationalen Gesellschaften. Damit stößt sie auf die theoretische Schwierigkeit, dasjenige bereits methodisch vorauszusetzen, was sie doch eigentlich analysieren wollte, nämlich die Konstruktion von nationaler Identität und von Nationalstaaten. In jüngeren Studien zu Grenzregionen wie Oberschlesien und zu Österreich-Ungarn wählten zumeist englischsprachige Autoren eine andere Herangehensweise und kamen prompt zu neuen Ergebnissen. James E. Bjork, Pieter Judson und Tara Zahra gingen nicht vom territorial geschlossenen Nationalstaat als Untersuchungseinheit und einem Nationalismus, der sich darin entwickelte, sondern von national ambivalenten, uneindeutigen und umstrittenen Zonen, aus. [1] Die Tübinger Dissertation von Julia Schmid zum deutschnationalen Milieu in Böhmen, die im SFB "Kriegserfahrungen" entstand, steht in dieser neueren Forschertradition, nationale Mobilisierungen in uneindeutigen, national gesehen offenen Konstellationen zu analysieren. Sie beschäftigt sich mit dem grenzüberschreitenden, genauer: Grenzen einreißenden Radikalnationalismus der Alldeutschen, die die nationale Gemeinsamkeit der Deutschen im Reich und in Deutsch-Österreich zum ideologischen Ausgangspunkt nahm.
Der radikale Nationalismus der Deutsch-Österreicher gewann nach 1879, besonders aber in den Jahren der Sprachenverordnungen Badenis nach 1897 an Bedeutung. Ideologisch behauptete er die nationale Gemeinsamkeit mit den Reichsdeutschen, was ihn in die unmittelbare Nachbarschaft des Alldeutschen Verbandes führte. Für den Habsburgerstaat bedeutete dies Sprengstoff, denn es ging um nichts Geringeres als die Vereinigung aller Deutschen im Reich und im Habsburgerstaat. Um die Selbst- und Fremdmobilisierung des Radikalnationalismus zu untersuchen, wählt die Autorin den organisierten Radikalnationalismus unter den Deutsch-Österreichern aus, also die so genannten österreichischen "Schutzvereine", worunter man den Deutschen Schulverein, die Südmark, den Deutschen Böhmerwaldbund und den Tiroler Volksbund versteht. Dessen reichhaltige Publizistik ist auf österreichischer Seite die Quellengrundlage dieser Studie. Auf reichsdeutscher Seite sind es die Veröffentlichungen des Alldeutschen Verbandes und des Allgemeinen Deutschen Schulvereins, der sich 1908 in den "Verein für das Deutschtum im Ausland" umbenannte.
Nach einem politikgeschichtlichen Überblick über den Nationalismus in Österreich-Ungarn nähert sich die Autorin ihrem Gegenstand methodisch in drei Schritten. Ihre These eines grenzüberschreitenden radikalnationalen Milieus übersetzt sie in drei Dimensionen einer deutschnationalen Erfahrungsgemeinschaft. Zur radikalnationalen Erfahrungsgemeinschaft diesseits und jenseits der Grenze zählt sie eine Handlungsgemeinschaft, eine Deutungsgemeinschaft und die intensive Wahrnehmung des österreichischen Radikalnationalismus im Deutschen Reich. Weniger überraschend sind in dieser Studie die radikalnationalistischen Topoi wie Sprache, Kultur und Rasse und vor allem der Antisemitismus, der zum nachgerade selbstverständlichen Gemeingut des nationalistischen Vereinsmilieus gehörte. Diese Merkmale sind bereits hinlänglich durch frühere Studien bekannt [2] und werden hier erneut fleißig und minutiös nachgezeichnet. Die Autorin tut dies detailliert in den Abschnitten über die Vereinspresse, über die Anstrengungen, die deutsche Sprache und Kultur in Mischgebieten um "Sprachinseln" herum zu festigen, in Abschnitten über Feiern und Denkmäler, über Wirtschaftsnationalismus, Tourismus , Germanenmythos, Siedlungsideologie und Geschichtsbilder.
Erstaunlich ist vielmehr der Nachweis einer wenn auch durchgängig Konflikt beladenen, so dennoch intensiven Zusammenarbeit mit den Radikalnationalisten im Reich und hier besonders dem Alldeutschen Verband. Die gemeinsame Abgrenzung gegen alles Slawische tat hier das Ihrige, um Gemeinsamkeit beiderseits der Grenze zu stiften. Bereits die ständigen Schwierigkeiten mit dem Alldeutschen Verband, der nun wahrlich kaum an nationalistischer Verve zu übertreffen war, deutete die zweite markante Eigenart des radikalnationalen Vereinsmilieus an: das Verhältnis zum Staat. Der Schulverein wie auch die anderen Vereine stellten die von ihnen konstruierte deutsche Nation weit über den Staat. Ein Kennzeichen des Radikalnationalismus in Österreich und im Reich war es, auf Distanz zur staatlichen, ja auch zur nationalstaatlichen Ordnung zu gehen. Die Nation blieb nicht nur eine vor-, sondern letztlich ein überstaatliche Größe. Dieser antistaatliche Nationalismus konnte sich auf den vorstaatlichen antinapoleonischen Nationalismus berufen, für den Ernst Moritz Arndts Vaterlandsvision gestanden hatte: "So weit die deutsche Zunge klingt / Und Gott im Himmel Lieder singt" (309). Den radikalen Deutsch-Österreichern kamen sogar die emanzipatorischen Gehalte eines Willensnationalismus entgegen, der auf das subjektive Bekenntnis zur Nation setzte. Der Hallenser Geograph Alfred Kirchhoff grenzte die der Staatsbürgerschaft zugewandte Nation vom Begriff des Volkes ab, der eine vage bestimmte vorstaatliche Größe blieb. Sein ebenfalls kleindeutscher Geographenkollege Ernst Hasse spitzte weiter zu: "Die Staaten, als Zusammenfassungen von Völkern, kommen und gehen. Und noch viel vergänglicher sind die Verfassungen der Staaten und die Zustände der Gesellschaft. Das Volk ist das auch Einzige, was weitere Wandelungen überdauern wird" (306). Gerade darin sah Hanna Arendt die Ursache für die Konkurrenz zwischen Nationalsozialismus und Nationalismus, weil Hitler sich bekanntlich nicht um Staatsgrenzen, Staatsaufbau und Staatlichkeit - auch nicht um eigene - scherte. [3]
Das alles scheint auf eine Vorgeschichte des ebenfalls staatlich unbehausten Radikalnationalismus der Zwischenkriegszeit hinzudeuten, zumal Hitler vom Radikalnationalisten Ritter von Schönerer beeindruckt war. Dennoch stellen sich Fragen: Wenn dieser Nationalismus des österreichischen Schulvereins sich so deutlich vom österreichischen Staat und auch theoretisch von Staatlichkeit absetzte, kann man ihn dann noch Nationalismus nennen? Zumindest scheint es sich dabei um einen Nationalismus zweiter Ordnung zu handeln, weil er gegen Nationalstaaten antrat, auch wenn sich dies in erster Linie auf den kleindeutschen Nationalstaat bezog. Begrifflich den Nationalismus eines Eduard Lasker und des Deutschen Schulvereins gleich zu behandeln, wirft zumindest Fragen nach der Stichhaltigkeit der Begriffsbildung auf.
Hier beginnen die Fragen nach dem Verhältnis zwischen dem österreichischen Radikalnationalismus und dem großdeutschen Nationalismus der 1848er Revolution und späterer Generationen, wie wir sie noch bei den württembergischen Demokraten auf der politischen Linken nach 1871 finden. Der großdeutsche Nationalgedanke hielt sich noch lange nach 1871 und feierte seine scheinbare Verwirklichung 1938. Hinzu kommen die langen Linien des österreichischen Deutschnationalismus, denen in dieser Arbeit leider nicht nachgegangen wird. Noch Hitlers Obsession mit der Rassereinheit verwies auf österreichische radikalnationalistische Ursprünge. Ritter von Schönerers Slogan, der freilich hier nur am Rande eine Rolle spielte, war: "Durch Reinheit zur Einheit". Diese Gesichtspunkte des Vergleichs und der Kontinuität können freilich die Verdienste dieser Arbeit nicht schmälern, die präzise das deutschnationale Milieu in zwei Staaten herausarbeitet.
Anmerkungen:
[1] Vgl. James E. Bjork: Neither German nor Pole, Michigan 2008; Pieter M. Judson: Guardians of the nation. Activists on the language frontiers of imperial Austria, Cambridge 2006; Jeremy King: Budweisers into Czechs and Germans. A local history of Bohemian politics, 1848-1948, Princeton 2002; Tara Zahra: Kidnapped souls. National indifference and the battle for children in the Bohemian Lands, 1900-1948, Ithaca 2008.
[2] Vgl. Peter Walkenhorst: Nation - Volk - Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich, 1890-1914, Göttingen 2008; Roger Chickering: We men who feel most German. A cultural study of the Pan-German League, 1886-1914, Boston 1984.
[3] Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Frankfurt a.M. 1958.
Siegfried Weichlein