Renate Hürtgen: Angestellt im VEB. Loyalitäten, Machtressourcen und soziale Lagen der Industrieangestellten in der DDR, Münster: Westfälisches Dampfboot 2009, 309 S., ISBN 978-3-89691-774-4, EUR 34,90
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Das Bild von der "entdifferenzierten Gesellschaft" sei eines jener Beschreibungen über das Leben in der DDR, das sich am hartnäckigsten halte. Es sei vor allem gespeist durch die im Vergleich zur kapitalistischen Bundesrepublik weit geringeren Einkommensunterschiede. Doch dies, so Renate Hürtgen, sage weder etwas über das Verhältnis der verschiedenen "Gruppen und Klassen innerhalb der DDR" (64), noch etwas über die Wahrnehmungen der jeweiligen materiellen Lebenslagen, die in der DDR bekanntermaßen wesentlich durch den Zugang zu den Gütern mitbestimmt waren. Hinter dem propagandistisch gezeichneten Bild des "Arbeiter- und Bauern-Staates" verbarg sich in der Tat eine differenzierte Gesellschaft, die sich beileibe nicht nur aus "Werktätigen" formierte. Hürtgen nimmt mit den Angestellten eine soziale Gruppe in den Blick, die in der DDR zwar statistisch in der Kategorie "Arbeiter und Angestellte" verschwand, allerdings eine quantitativ zunehmende Gruppe war. Dies hatte durchaus ähnliche Prozesse als Ursache, wie sie auch in kapitalistischen Wirtschaftssystemen zu beobachten waren. Strukturveränderungen in den Produktionsabläufen ließen die Zahl der Angestellten in der Industrie anschwellen. Der Bedeutungszuwachs des Dienstleistungssektors spielte in der DDR demgegenüber eine nachrangige Rolle. Dieser Bereich bleibt in Hürtgens Arbeit auch ausgeklammert.
Nachdem die Autorin einleitend ihre Studie in den Kontext der fast ausschließlich westlichen Angestelltenforschung eingruppiert, geht sie in einem ersten Kapitel dem Stellenwert der Angestellten in der SBZ/DDR nach, denen bis 1949 immerhin noch eine eigene gewerkschaftliche Organisation zugebilligt worden war, und schildert die quantitative Entwicklung und die materielle Lage der Angestellten. Angesichts der statistischen Hürden ist dies eine sehr verdienstvolle Grundlage, auf der die weiteren Kapitel aufbauen. Bereits hier kann Hürtgen eine außerordentlich breite und von großer sozialer Ungleichheit geprägte Ausdifferenzierung "der Angestellten" von den niedrig bezahlten, meist von Frauen ausgeübten, einfachen Tätigkeiten im Verwaltungsbereich der Betriebe bis hin zum relativ hoch bezahlten und vor allem mit zahlreichen Privilegien ausgestatteten Leitungspersonal der Kombinate skizzieren.
Im zweiten Kapitel, dem eigentlichen Hauptteil der Studie, arbeitet die Autorin im Wesentlichen drei in sich weiter aufgegliederte Gruppen der Industrieangestellten heraus. Es ist dies zum einen das Leitungspersonal, die "herrschende Funktionselite". Hier bildete sich infolge der Kaderpolitik der Partei der 1960er und 1970er Jahre ein Typus heraus, der fachliche Kompetenz mit parteilicher Loyalität und Disziplin verband. Die Mitgliedschaft in der SED war auf dieser Ebene obligatorisch. Als eine "Unterform" ist der Meister zu sehen, der als "Unteroffizier" in die Betriebshierarchie integriert ist. Die hoch qualifizierte, aber von Leitungspositionen ferngehaltene "unpolitische" technische und ökonomische Intelligenz ("ohnmächtige Funktionselite") ist eine weitere, sehr heterogene Gruppe, die der "einfachen Angestellten" eine dritte. Während es in den 1950er Jahren noch Kontinuitäten zu traditionellen Selbstbildern und Tätigkeitsprofilen ("der Ingenieur") gab und solcherart "rest-bürgerliche" Segmente mittels Gewährung von Privilegien von Abwanderung abgehalten und nutzbar gemacht werden sollten, trat seit der Zäsur von 1961 ein deutlicher Wandel ein. In den 1970er Jahren schließlich war ein Zustand erreicht, in der die SED auch im VEB die unbestrittene herrschende Instanz war, was sich nicht zuletzt in der institutionalisierten Form der ab 1976 in den Betrieben eingesetzten "Parteiorganisatoren des ZK der SED" zeigte. Mit der Beschreibung eines Leitungspersonals, das diszipliniert die planwirtschaftlichen Vorgaben einhielt und selbst im Wissen um die Krise noch zuverlässiger Parteiarbeiter blieb (124) tritt Hürtgen einer nach 1989/90 häufig anzutreffenden Selbstinszenierung eines fachlich kompetenten Generaldirektors entgegen, der von der Partei am sachorientierten Handeln gehindert worden sei.
Im dritten Kapitel wendet sich Hürtgen dem Fremd- und dem Selbstbild der Angestellten zu. Die Charakterisierung als "Faultiere" und "Sesselfurzer" durch die Produktionsarbeiter scheint an traditionelle Vorurteile der Arbeiterschaft gegenüber Büroangestellten zu erinnern. Doch Hürtgen sieht ein weiteres Element: Es sei der spezifische Charakter von leitender Angestelltentätigkeit als Herrschaft der SED gewesen, der die Ablehnung hervorgerufen habe. Bei aller Binnendifferenzierung kommt Hürtgen zu dem Schluss, dass Angestellte häufiger staatsloyal und diszipliniert gewesen seien, Eigenschaften, die übrigens auch deren Selbstbild prägten.
Im vierten Kapitel wirft die Autorin die Frage auf, ob von einem "Sozialcharakter" der Angestellten in der DDR gesprochen werden könne - eine Frage, die angesichts der entworfenen großen Bandbreite kaum mit Ja zu beantworten ist. Hürtgen lotet stattdessen Möglichkeiten aus, die Angestellten als soziale Gruppe zu fassen bzw. Angestelltenmilieus zu skizzieren. Sie greift hier auf die drei großen Angestelltengruppen zurück und ortet die einfachen technischen und Verwaltungsangestellten mehrheitlich in einem "Arbeiterklassenmilieu". Bei der von der Leitung ausgeschlossenen technischen und ökonomischen "Intelligenz" wird die Milieuzuordnung schon weit schwieriger, hier reichen die Attribute von kleinbürgerlich, rationalistisch-technokratisch über hedonistisch bis hin zu traditionell-proletarisch. Am deutlichsten lässt sich das Milieu jener "neuen Dienstklasse", bestehend aus den parteitreuen, staatsloyalen Leitern abgrenzen, eine Gruppe, die vorrangig unter ihresgleichen verkehrte und vom Habitus am ehesten mit einer konservativen kleinbürgerlichen Elite vergleichbar war. Die Abschottung dieser "Oberklasse" ist eines der spannenden Ergebnisse dieses Teils der Studie, die die Autorin aber wenig systematisch und eher en passant präsentiert. Überhaupt zeichnen sich diese Abschnitte durch eine vergleichsweise geringe Tiefenschärfe, sowohl von der empirischen Basis wie von der theoretischen Fundierung, aus. Der Autorin ist dies bewusst, der Prozess der Milieubildung könne im Rahmen der Studie nicht hinreichend beschrieben werden, sollte jedoch zu einem zentralen Thema der Sozialgeschichte der SED gemacht werden - eine Anregung, der zuzustimmen ist. Auch in einem weiteren Feld gilt es, die Forschungsperspektive zu erweitern. Hürtgen hat zu Recht darauf verwiesen, dass eine "Angestelltenfrage" in der DDR nicht gestellt wurde und entsprechende Untersuchungen nur vereinzelt und nach den 1960er Jahren überhaupt nicht mehr veröffentlicht wurden. Gleichwohl scheint die Thematik eben nicht nur hinter vorgehaltener Hand erörtert worden zu sein. Hürtgen zitiert selbst aus einer Quelle, in der die gegenseitigen Animositäten zwischen Arbeitern und Angestellten sehr deutlich thematisiert wurden (224) - es war die Form des Romans, in dem diese Probleme öffentlich zur Sprache kamen. Diese Art von Öffentlichkeit auf "Umwegen" systematischer zu untersuchen, lohnte sich wohl nicht nur im Hinblick auf "die Angestellten".
Versteht man Strukturwandel und Ausdifferenzierung einer Gesellschaft als wesentliche Elemente von Modernisierung, so muss im Falle der DDR von einer blockierten Modernisierung in den Grenzen der Diktatur gesprochen werden. So waren im Zusammenhang mit dem Bildungs- und Qualifizierungsschub der 1960er und 1970er Jahre mögliche Rationalisierungs- und Professionalisierungseffekte durch den inadäquaten Einsatz der neuen Hoch- und Fachschul-"Kader" zunichte gemacht worden. Ohne Blockade wäre die gesamte Struktur der Wirtschaft und vor allem die Rolle der Partei in Frage gestellt worden - eine Konsequenz, an der bereits die Reformansätze der frühen 1960er Jahre scheiterten.
Detlev Brunner