Rezension über:

Wernfried Hofmeister / Andrea Hofmeister-Winter (Hgg.): Wege zum Text. Überlegungen zur Verfügbarkeit mediävistischer Editionen im 21. Jahrhundert. Grazer Kolloquium 17.-19. September 2008 (= Beihefte zu editio; Bd. 30), Tübingen: Niemeyer 2009, VI + 247 S., ISBN 978-3-484-29530-8, EUR 89,95
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Rezension von:
Malte Rehbein
Institut für deutsche Philologie, Bayerische Julius-Maximilians-Universität, Würzburg
Redaktionelle Betreuung:
Georg Vogeler
Empfohlene Zitierweise:
Malte Rehbein: Rezension von: Wernfried Hofmeister / Andrea Hofmeister-Winter (Hgg.): Wege zum Text. Überlegungen zur Verfügbarkeit mediävistischer Editionen im 21. Jahrhundert. Grazer Kolloquium 17.-19. September 2008, Tübingen: Niemeyer 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8 [15.07.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/07/17665.html


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Wernfried Hofmeister / Andrea Hofmeister-Winter (Hgg.): Wege zum Text

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"'Wo finde ich diese Textausgabe?' Keine andere Frage spielt heute im literaturkundlichen Lehr- und Forschungsbetrieb eine wichtigere Rolle und lässt sich mitunter schwerer beantworten, denn der Dschungel an unterschiedlichsten 'Existenzformen' von Editionen ist praktisch unüberschaubar geworden."[1] So motivierten Wernfried Hofmeister und Andrea Hofmeister-Winter ein Grazer Kolloquium im September 2008, dessen Beiträge nun als Band 30 der Beihefte zu editio veröffentlicht wurden.

Insgesamt 19 Artikel unterschiedlicher Länge behandeln auf 247 Seiten mit zahlreichen Abbildungen das Leitthema, das sowohl das Edieren als "Weg zum Text" als auch Wege zum edierten Text umfasst und damit Fragen nach der Reichweite und der Erreichbarkeit (germanistischer) mediävistischer Editionen adressiert. Der Band wird begleitet durch Podcasts der Vorträge, die in guter Audioqualität, teilweise mit Begleitmaterial, frei zugänglich auf der Website der Herausgeber bereitgestellt sind. [2]

Zu den einführenden Beiträgen zählen Wernfried Hofmeister "Wege zum Text: Problemaufriss zum Stellenwert von Editionen und ihrer Verfügbarkeit" (leider erst in der Mitte des Bandes: 73-80), der das "engere Tagungsthema und dessen strategische Ausrichtung" (77) umreißt, sowie Hubert Stigler, "Neue Wege in der Digitalen Edition: Jenseits von Hypertext und Nicht-Linearität" (203-212) mit einer kurzen Übersicht über Modelle und Technologien digitalen Edierens, deren Lektüre vor allem dem noch nicht mit diesen Methoden vertrauten Leser empfohlen werden kann.

Dem speziellen Problem des Auffindens "verstreuter Editionen in Zeitschriften" (3-15) widmet sich Klaus Amann und skizziert Chancen, die gemeinsame Digitalisierungsbemühungen zur Verbesserung ihrer Zugänglichkeit bieten können. Eher grundsätzlicher Natur sind hingegen die Überlegungen von Andrea Hofmeister-Winter, "Editionssuche in der wissenschaftlichen Praxis: Gedanken zur Auffindbarkeit von Textausgaben im Internet" (81-95), die Beispiele frustrierender Erfahrungen als Informationsnutzer mit Suchmaschinen, Kurzlebigkeit elektronischer Ressourcen, Interoperabilität von Datenbanken, Qualität von Scans und Texterkennung oder Aktualität von Verzeichnisdiensten problematisiert. Auf der anderen Seite berichten Gregor Horstkemper und Karl Märker aus der Sicht der Informationsbereitsteller: "Digitalisierung von Handschriften und Drucken der Bayerischen Staatsbibliothek: Strukturierung und Präsentation mittels XML" (97-112) gibt einen beispielhaften Einblick in die Praxis der Digitalisierung und des elektronischen Publizierens.

Damit verbundene rechtliche Fragen werden in den "grundsätzlichen Überlegungen rund um ein künftiges mediävistisches Text-Portal" (121-131), welches Helmut W. Klug als eine interaktive Web 2.0 Plattform skizziert, angerissen und von Ferdinand Melichar systematisch diskutiert. Dabei geht der Jurist sowohl auf den Schutz als auch auf Fragen der Nutzung von "Herausgeberleistung" (134) ein. Seine Erklärungen sind sehr willkommen, zumal der entsprechende Beitrag von Mary Case und David Green im breit aufgenommenen Sammelband "Electronic Textual Editing" den kontinental-europäischen Kulturkreis mit seinem sich fundamental vom angloamerikanischen Copyright unterscheidenden Urheberrecht gänzlich ignoriert hat. [3]

Zwei verwandte Beiträge führen den Weg zum Text über das Bild. Während Christopher Schaffer Perspektiven von Faksimile-Ausgaben aus der Verlagssicht diskutiert (161-165), charakterisiert Hans Zotter die Handschriften-Sondersammlungen der Bibliotheken und ihre Digitalisierungsbemühungen als "multimediale Schaltstellen des Forschens und Lehrens" (247). Thomas Bein legt in "Edieren und Studieren - Über neue hochschuldidaktische Anforderungen an Textausgaben" (17-30) den Schwerpunkt seiner Überlegungen auf die akademische Lehre, die in anderen Beiträgen nur am Rande anklingt.

Eher als konkrete Projektbeschreibungen sind vier weitere Beiträge ausgelegt. Thomas Gloning führt am Beispiel von spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Koch- und Kräuterbüchern die sprachwissenschaftliche Nutzung digitaler Textkorpora (53-71) vor. Ulrich Müller leitet Konsequenzen für die künftige Edition mittelhochdeutscher Lyrik aus der Arbeit an der Salzburger Neidhart-Edition ab (139-160). Armin Schlechter erlaubt mit "Populäre Fassungen oder wissenschaftliche Editionen?" (167-184) einen Einblick in die Editionspraxis der Heidelberger Romantik, und Michael Stolz (213-228) diskutiert anschaulich den Umgang mit Textvarianz im Berner Parzival-Projekt an Hand des wichtigen Kriteriums der "Wahrnehmungsmöglichkeiten der Leser" (216) im gedruckten und (ergänzenden) elektronischen Medium.

In einer letzten Gruppe von Beiträgen werden Hilfsmittel der mediävistischen Philologie vorgestellt: Kurt Gärtner und Ralf Plate beschreiben "Wörterbuchwege zum Text" (31-42) an Hand des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs im Internet, Ralf Gehrke (43-51) illustriert den Thesaurus indogermanischer Text- und Sprachmaterialien (TITUS), Klaus Klein (113-119) erläutert Möglichkeiten und den Aufbau des Projekts "Handschriftencensus", Margarete Springeth die mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank als "sehr frühes Beispiel für die Auseinandersetzung der Geisteswissenschaften mit den modernen Informationstechnologien" (188), und schließlich berichtet Jürgen Wolf über den Ausbau des "Editionsberichts" zu einem laufend aktualisierten online-Informationssystem (229-240).

Die Vielfalt der hier präsentierten Wege zum Text ist also groß; sie reicht von verstreuten Teilüberlieferungen in Zeitschriften bis zu modernen, tagesaktuellen, internetbasierten Findmitteln und Werkzeugen. Schnell wird bei der Lektüre des Bandes klar, dass der mediävistische Text im 21. Jahrhundert wohl vornehmlich über das digitale Medium zu erreichen sein wird, ohne dass dabei der Druck als Repräsentationsform gänzlich aufzugeben ist. Eine grundsätzliche Mediendiskussion, wie sie etwa die Autoren von "Text Editing, Print and the Digital World" führen [4], bleibt zwar aus; das Wechselspiel der je nach Sichtweise konkurrierenden, koexistierenden oder komplementären Medien wird aber fallbezogen in einzelnen Beiträgen immer wieder thematisiert (v.a. bei Stolz und Müller) und liefert so einen Einblick in dieses mediale Spannungsfeld.

Einem Konferenzband entsprechend sind die Beiträge in Art, Umfang und Tiefe sehr unterschiedlich. Die Herausgeber bieten damit zwar eine facettenreiche Zusammenstellung zu Perspektiven mediävistischer Editionen und Edierens, aber leider erfolgt diese wenig strukturiert. Es fehlt eine Einleitung, die die einzelnen Artikel in den Kontext der Leitfragen einbettet und dem Leser einen roten Faden durch den "multimedialen 'Dschungel'" (1) bietet, den er dringend benötigt, sind doch die Beiträge weder thematisch gruppiert noch einer inhaltlichen Orientierung dienlich (sondern unglücklicherweise alphabetisch nach Autorennamen) sortiert. Da der Band zudem keine Abstracts anbietet, fehlt dem Leser ein systematischer Weg zu den "Wegen zum Text". In Ergänzung hierzu hätte man sich eine Gesamtbibliographie, ein Autorenverzeichnis und ein Glossar der doch zahlreichen technischen Begriffe gewünscht.

Damit kann der Band leider keine systematische "Orientierung in dem mitunter fast undurchdringlich gewordenen multimedialen 'Dschungel' aller Existenzformen unserer Editionen" (1) bieten. Dennoch gelingt den Herausgebern ein exemplarischer und anschaulicher Einblick zur Verfügbarkeit mediävistischer Editionen im 21. Jahrhundert, der trotz seiner Fokussierung auf die Germanistik auch dem Historiker insbesondere als Einstieg in die Welt von digitalen Ressourcen und elektronischen Texten, sowie in künftige editorische Chancen und Herausforderungen hilfreich sein kann.


Anmerkungen:

[1] Kolloquiumsankündigung http://www.uni-graz.at/wernfried.hofmeister/wegezumtext/wzt_aussendung.pdf

[2] http://www.uni-graz.at/wernfried.hofmeister/wegezumtext/podcast/index.html

[3] Mary Case und David Green: "Rights and Permissions in an Electronic Edition", in: Electronic Textual Editing, ed. by Lou Burnard / Katherine O'Brien O'Keeffe / John Unsworth, New York 2006, 346-357.

[4] Text Editing, Print and the Digital World, ed. by Merilyn Deegan / Kathryn Sutherland, Aldershot 2009.

Malte Rehbein