Vito Francesco Gironda: Die Politik der Staatsbürgerschaft. Italien und Deutschland im Vergleich 1800-1914 (= Bürgertum. Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft; Bd. 8), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 354 S., ISBN 978-3-525-36848-0, EUR 49,90
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Die Geschichte des Staatsangehörigkeitsrechts und die Wandlungen der praktischen Bedeutung von Staatsbürgerschaft werden seit den 1990er Jahres recht intensiv erforscht. Allerdings ist der Forschungsstand für verschiedene Länder unterschiedlich dicht. Während das Deutschland des 19. Jahrhunderts in jüngster Zeit durch die Bücher von Dieter Gosewinkel, Eli Nathans, Oliver Trevisiol und demnächst Christiane Reinecke [1] recht gut erforscht ist, liegt zur Entwicklung der italienischen Staatsbürgerschaft im 19. Jahrhundert noch keine entsprechende monografische Studie vor.
Diese Forschungslücke hat Gironda angeregt, einen Vergleich zwischen Preußen und dem deutschen Kaiserreich einerseits, Sardinien-Piemont und dem Königreich Italien andererseits zu unternehmen. Zwischen beiden gab es einige Gemeinsamkeiten: In beiden Fällen schwang sich ein Staat zum Kern einer Nation auf, was eine Neuaushandlung der Mitgliedschaft notwendig machte; in beiden Fällen setzte sich das ius sanguinis als Normalfall der Übertragung der Staatsangehörigkeit von Vätern auf Kinder durch; in beiden Fällen führte die Massenauswanderung nach Übersee nach 1900 zu einer grundlegenden Reform.
Das erste Kapitel, das die Kodifikation der Staatsangehörigkeit in Preußen 1842 mit der in Sardinien-Piemont 1837 vergleicht, verweist aber auch auf Unterschiede. Während es in Preußen um Integration des Staatsgebiets und "die Durchsetzung staatlicher Herrschaft gegen die Persistenz staatsrechtlicher Partikularismen" (52) gegangen sei, standen in Sardinien zunächst die Bewahrung konfessioneller Homogenität und damit der Ausschluss von Juden und Protestanten im Vordergrund. Die auch in Preußen zu beobachtende Tendenz, Juden und kleinere christliche Religionsgemeinschaften als Staatsbürger zweiter Klasse zu behandeln und ihnen den Zugang zum Staatsangehörigenverband zu verwehren, tritt demgegenüber für Gironda offenbar zurück.
Gironda stellt fest, im Königreich Sardinien habe die Mitgliedschaft in Korporationen bereits seit dem 18. Jahrhundert nur noch eine geringe Rolle gespielt. Insofern war die Zusammenführung der ganz unterschiedlich strukturierten Vorstellungen über Grenzen und Bedeutung der Zugehörigkeit zum "Staat" im Zuge der italienischen Einigung - die im nächsten Kapitel im breiten Bogen von 1815 bis 1865 unter Einschluss der Französischen Revolution behandelt wird - ein zentrales Problem der italienischen Staatsgründung. Gironda zufolge entschied man sich in Italien für eine zentralistische und formalistische Rechtsordnung, die sich gegen die Autonomie lokaler Korporationen und gegen die Bewahrung regionaler Traditionen richtete. Zweitens optierten Parlament und Regierung für ein "ethno-kulturelles" Modell der Staatsangehörigkeit (124), dessen Ausdruck die Beibehaltung des ius sanguinis war. Dass dieses Modell in den Reformen von 1912 und 1913 eher gestärkt wurde, sieht Gironda weniger als Ergebnis einer langfristigen Pfadabhängigkeit denn als Ausdruck des neuen Interventionsstaates, der neue Probleme - die Beziehung zwischen Auswanderern und dem Heimatland - auf neue Weise lösen wollte. Dabei stand in Italien die Hoffnung im Vordergrund, Auswanderer nach Südamerika stärker an das Mutterland zu binden ohne Italienern in den USA die politische Partizipation dort zu erschweren. Weniger wichtig war offenbar die Tatsache, dass das Königreich Italien gegen die katholische Kirche gegründet wurde - obgleich Religion fortan formal für Staatsbürgerrechte und -Pflichten keine Rolle mehr spielen sollte.
Der letzte Abschnitt beschäftigt sich mit der Praxis der Verleihung der Staatsangehörigkeit. Anhand einer auf summarischen Statistiken und der Analyse einzelner Fälle gründenden Analyse der italienischen Einbürgerungspolitik verweist Gironda darauf, dass die Vorstellung einer ethno-kulturellen Abschließung nach Außen mit einer sozialen Schließung einherging, da vor allem Unternehmer und Angehörige der Freien Berufe in den Genuss der Einbürgerung gelangten.
Diese Thesen werden in einem eher theoretisch angelegten, klar lesbaren Text mit großer Energie vertreten. Leider hat die Energie beim Literaturverzeichnis erkennbar nachgelassen, das von Druckfehlern nur so wimmelt. Insgesamt hat Gironda eine Reihe souveräner Essays über das Verhältnis von Staat, Nation und Staatsbürgerschaft in Italien vor der Folie paralleler deutscher Entwicklungen vorgelegt. Dabei betont er - in teilweiser Absetzung von der Tradition, das Italien des Risorgimento als besonders liberalen Staat darzustellen - die ethno-kulturellen, exklusiven Tendenzen der italienischen Nationsbildung und die Tendenz zur sozial exklusiven Imagination der Staatsbürger. Unklar blieb mir freilich, wie Gironda die Entwicklung von religiöser Exklusion im frühen 19. Jahrhundert und religiöser Emanzipation nach 1865 bzw. 1871 in diese Matrix einbindet.
Damit ist ein weiteres Problem der Studie benannt. Es gelingt nicht so ganz, die verschiedenen, individuell sehr interessanten Teile zu einer kohärenten Erzählung zu verbinden; somit bleiben einige nicht unerhebliche Fragen offen. Denn mal geht es Gironda um die Regelung der Staatsangehörigkeit, mal um die Beziehung zwischen (Zentral-)Staat und nachgeordneten Verwaltungseinheiten bzw. Korporationen (etwa im Bereich des Armenrechts), mal um die administrative Praxis der Inklusion und Exklusion - aber zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen regionalen wie politischen Kontexten. Dazu kommt, dass die Deutung des ius sanguinis als Marker ethno-kultureller Nationsdefinitionen hinter dem aktuellen Diskussionsstand zurückbleibt. In diesem Zusammenhang besonders bedauerlich ist der fehlende Bezug auf Patrick Weils Analyse der Entwicklung des französischen Staatsbürgerschaftsrechts - von dem das ius sanguinis in Europa seinen Ausgang nahm -, die auch Girondas Interpretation der französischen Verfassungen und des Code civil, die in Norditalien eine prägende Rolle spielten, hätte deutlich erweitern können. [2] Ohne Berücksichtigung von Einbürgerungsraten, internationalen Vernetzungen zwischen juristischen Fachleuten sowie den Regeln für den Verlust der Staatsangehörigkeit sagt eine Präferenz für ius sanguinis nämlich wenig aus. Diese Kritikpunkte ändern freilich nichts daran, dass Gironda einen wichtigen Beitrag zur Untersuchung der Entwicklung der italienischen Staatsangehörigkeit vorgelegt hat, der auf einer breiten und differenzierten Rechercheleistung beruht.
Anmerkungen:
[1] Dieter Gosewinkel: Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001; Eli Nathans: The Politics of Citizenship in Germany. Ethnicity, Utility and Nationalism, Oxford 2004; Oliver Trevisiol: Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich 1871-1945, Göttingen 2006; Christiane Reinecke: Grenzen der Freizügigkeit: Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland, 1880-1930, München 2010.
[2] Patrick Weil: Qu'est-ce qu'un Français? Histoire de la nationalité française depuis la Révolution, 2. Aufl. Paris 2005 oder: How to Be French. Nationality in the Making since 1789, Durham 2008.
Andreas Fahrmeir