Frank Mort: Capital Affairs. London and the Making of the Permissive Society, New Haven / London: Yale University Press 2010, XV + 508 S., ISBN 978-0-300-11879-7, GBP 25,00
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Im Herbst 1955 besuchte Alfred Kinsey im Rahmen seiner weltumspannenden Sexualforschungen London. Was er dort sah, begeisterte und schockierte ihn. Auf der einen Seite bot London ein reichhaltiges Forschungsfeld. Kommerzialisierter Sex der hetero- wie homosexuellen Variante war überall in der Innenstadt präsent - wie sonst nur in Havanna (2). Auf der anderen Seite war gerade diese Erotisierung der Londoner Innenstadt (Kinseys Beobachtungen stützten sich im Wesentlichen auf einen nächtlichen Spaziergang durch Soho) für ihn ein klarer Beleg für sexuelle Repression. Ob die Regierung Kinseys Verweis auf lateinamerikanische Zustände (der gegenüber einer Kommission fiel, die Prostitution und Homosexualität untersuchen sollte) als Anreiz verstand, den Umgang mit Sexualität zu liberalisieren, um Soho mittelfristig überflüssig zu machen, mag man allerdings bezweifeln.
Überhaupt - so scheint es - sollte man einiges an der konventionellen Erzählung von den repressiven 1950er Jahren und den liberalen 1960ern in Zweifel ziehen, auch und gerade in London. Frank Morts beeindruckendes und anregendes Buch, das mit der kurzen Begegnung zwischen Kinsey und London beginnt und mit dem Profumo-Skandal endet, hat sich zwei hochgesteckte Ziele gesetzt und beide vollauf erreicht. Es geht Mort zunächst darum, eine Kulturgeschichte der Londoner Gesellschaft und Obrigkeit in ihrem Umgang mit unterschiedlichen Varianten kommerzialisierter Sexualität zu schreiben. Zweitens ist er bestrebt, die allgemeine Historiografie zur sexuellen Liberalisierung in Großbritannien intensiver in den geografischen Räumen zu verorten, wo sie stattfand und an deren Beispiel sie verhandelt wurde.
Morts Geschichte setzt mit der Krönung Elisabeths II. ein, die ein Symbol der Wiedergeburt Londons als Metropole auch des Vergnügens war. Renovierungen - unter anderem des von Stadtplanern eher vernachlässigten Soho -, Besucher und Berichte machten deutlich, dass die Metropole die düsteren Jahre der homogenisierenden Rationierung hinter sich ließ. Egal, ob man die Veränderung aus der Pose des skandalisierten Journalisten schilderte, dem es darum ging, Missbräuche zu geißeln, oder aus jener des "Man about Town" (konkret eine Publikumszeitschrift der Schneiderbranche): Die Veränderungen waren nicht zu übersehen. Kaum zu übersehen war allerdings auch, dass Aufbruch und Pathologie nahe beieinander lagen. Selbst am Rande der Krönungsfeierlichkeiten liefen Besucher Gefahr, in öffentlichen Toiletten rüde von "Homosexuellen" - oft ausgerechnet Soldaten der Leibgarde in Uniform - belästigt zu werden. Das geschah immer häufiger unter den Augen von Polizisten, die zum Latrinendienst abgestellt wurden, um der "Übeltäter" habhaft zu werden. Diese wanderten dann in großer Zahl ins Gefängnis: Als Kinsey London besuchte, saß ein Drittel der männlichen Häftlinge von Wormwood Scrubbs in London wegen Sexualdelikten ein, die meisten davon wegen "Unzucht" mit anderen Männern.
Zwei Monate vor der Krönung war bekannt geworden, dass der unscheinbare, im von zahlreichen karibischen Einwanderern geprägten Norden Kensingtons wohnende John Christie sechs Frauen, darunter seine Ehefrau, umgebracht hatte. Christie war ein regelmäßiger Kunde von Prostituierten, unter denen er seine Opfer auswählte, aber - so versuchte zumindest die Verteidigung zu argumentieren - von der interkulturellen Herausforderung in Verbindung mit den sexuellen Verlockungen der Stadt schlicht überreizt.
Im Herbst 1954 nahm die Wolfenden Commission, die neue Mechanismen zur Kontrolle und Eindämmung von Homosexualität und Prostitution erarbeiten sollte, in London ihre Arbeit auf. Sie hörte viele (Londoner) Zeugen - Latrinenpolizisten, London-"Experten" wie Kinsey, prominente Homosexuelle aus den höheren Schichten -; nur Prostituierte, die vor der Kommission ausgesagt hätten, ließen sich nicht finden. Als der Bericht 1957 veröffentlicht wurde, wurde er zum erotisierenden Bestseller. Er enthielt neben aufregenden Berichten Vorgaben, die auf einen (partiellen) Schritt zur "permissive society" hinausliefen. Er empfahl eine Unterscheidung zwischen privaten freiwilligen Handlungen unter Erwachsenen auf der einen Seite und der einer widerstrebenden Öffentlichkeit aufgedrängten Sexualität andererseits. Zwar ließ die Dekriminalisierung der Homosexualität noch fast zehn Jahre auf sich warten, aber in der Praxis wuchsen die Möglichkeiten, private Räume für homosexuelle Begegnungen zu schaffen, in denen das Kriminalisierungsrisiko gering war. Das waren vor allem vornehme Herrenclubs mit eindeutiger Zielsetzung und intensiver Kontrolle der Mitglieder, um staatliche Spione auszuschließen.
Eine ähnliche Logik prägte den Umgang mit kommerzialisierter weiblicher Sexualität. Auch hier erwies sich das von Paul Raymond geprägte Modell des quasi-öffentlichen "Clubs" mit erotischer Unterhaltung als erfolgreicher als das erotisierende Revuetheater im Stile des jüngst im Film "Mrs Henderson Presents" gefeierten Windmill Theatre. Auffällig scheint Mort die Parallelisierung von "kontinentalem" Geschmack und Erotik. Soho wurde in den 1950er Jahren zum Ort, wo man exotische Restaurants besuchen und fremde Gewürze, Soßen, Lebensmittel und Weine kaufen konnte - und zum erotischen Vergnügungsviertel. Diese Kombination lieferte einen weiteren Beitrag zum Untergang des Windmill Theatre: Warb das in der Weltwirtschaftkrise auch als Unterstützungseinrichtung für arbeitslose Künstler gegründete Theater vor allem damit, dass es Mädchen von nebenan präsentierte, lockten Raymonds Präsentationen nackter Frauen und Männer auch mit der Herkunft der deutschen, dänischen, ungarischen, französischen und italienischen Darstellerinnen.
Am Ende des Buches führt Mort die verschiedenen Stränge seiner Erzählung in einer bekannten, aber hier neu gelesenen Skandalgeschichte zusammen. Im Sommer 1960 traten in einem der Soho Stripclubs erstmals Christine Keeler und Mandy Rice-Davis auf. Beide machten die Bekanntschaft des Osteopathen Stephen Ward. Ward, der unter anderem Winston Churchill behandelt hatte, war einer jener Männer der gehobenen Gesellschaft, welche die öffentlich immer wieder positiv oder negativ diskutierten erotischen Möglichkeiten, die London bot, vollauf auszukosten suchten: Voyeurismus, Beziehungen mit Frauen aus der Karibik oder aus dem Orient, private Orgien, zu denen Ward auch Frauen wie Christine Keeler vermittelte, die sich die finanziellen Möglichkeiten erotischer Dienstleistungen in London bewusst zu machen begann, ohne sich als Prostituierte zu definieren. Ward, der mit William Astor gut bekannt war, hatte ein Haus auf dem Gut Cliveden gemietet und durfte mit seinen Gästen den dortigen Pool benutzen; bei einer Poolparty kamen auch Astors politische Gäste hinzu. Die dort geknüpfte Beziehung zwischen Keeler und dem Verteidigungsminister Profumo wuchs sich zur gleichnamigen Affäre aus, da Keeler zugleich eine Beziehung mit einem russischen Agenten unterhielt und angeblich von Ward angehalten worden war, Staatsgeheimnisse zu sammeln.
Die - in London und im unmittelbaren Londoner Umfeld spielende - Affäre endete, darauf legt Mort großen Wert, für Profumo mit dem Verlust seiner Karriere und für Ward mit Selbstmord (kurz bevor er wegen Zuhälterei schuldig gesprochen wurde), für Keeler und Davis dagegen mit einer lukrativen Medienkarriere. Diese bestätigte das Geschäftsmodell Soho: Exotismus, Erotik und Medialisierung. Denn in Soho hatten 1955 erstmals die lokalen Restaurateure, Laden- und Klubbesitzer Werbung für das Viertel gemacht, indem sie einen Umzug organisierten, in dessen Zentrum leicht bekleidete Frauen standen; das Ereignis wurde gefilmt und landesweit in Kinos als Teil der Nachrichten gezeigt.
Mort erzählt eine komplexe Geschichte des Wegs in die "permissive society", in der Klassenschranken, kommerzielle Interessen, halbherzige Regulation, lange, bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Traditionen und neue Erfahrungen und Möglichkeiten eine Rolle spielen. Es ist eine lokale Geschichte, bei der man sich gelegentlich fragt, wie sie zu den anderen Geschichten der Beziehung zwischen Krieg, sexueller Liberalisierung, Rechristianisierung und '68' passt, die in den letzten Jahren vorgelegt worden sind - und sei es nur, weil London ja weiterhin in Konkurrenz zu anderen Orten des erotischen Vergnügens wie Paris, Kopenhagen oder Amsterdam stand. Dann vergisst man die Frage jedoch auch leicht wieder, denn Mort vermag zumindest plausibel zu machen, dass die lokale Komponente der sexuellen Liberalisierung immer noch ungenügend erforscht ist. Denn zumindest in England verlagerten sich in den 1960er Jahren die bislang London-zentrierten Debatten um Praktiken, Pathologien, Moral und Legalität nach Norden - spätestens, als auf Londons Christie der Yorkshire Ripper folgte.
Andreas Fahrmeir