Niels P. Petersson: Anarchie und Weltrecht. Das Deutsche Reich und die Institutionen der Weltwirtschaft 1890-1930 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 183), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 387 S., ISBN 978-3-525-37006-3, EUR 49,90
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Die 2008 in Konstanz angenommene Habilitationsschrift widmet sich dem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts expandierenden internationalen Kapitalmarkt. Obgleich ein großer Teil der Schuldverhältnisse grenzüberschreitend war, fehlte es an Regeln für den Umgang mit säumigen Schuldnern. Dieses Problem trat zwischen Privaten, aber auch zwischen Staaten und Privatleuten auf. Letzterem Aspekt widmet sich das erste Großkapitel. Als Schuldner traten seit den 1820er-Jahren vor allem die lateinamerikanischen Staaten auf, die ihre Unabhängigkeit erreicht hatten. Hierunter wählt der Autor Venezuela als Schwerpunkt aus, dem er den europäischen Fall Griechenlands entgegenhält. Beide Länder finanzierten ihren Unabhängigkeitskampf mit Krediten, waren auf internationalem Parkett aber auch noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts wichtige Schuldner. Das Deutsche Reich trat - im Gegensatz zu Großbritannien und Frankreich - erst relativ spät als internationaler Kreditgeber auf, sodass die Ausgangszäsur für die Untersuchung mit Bedacht gewählt erscheint. Angesichts der ungünstigen Konditionen, zu denen die meisten Anleihen vergeben wurden, musste mit Zahlungsunfähigkeit der Kreditnehmer stets gerechnet werden. Von Seiten der privaten Gläubiger führte dies zum Ruf nach staatlicher Unterstützung zur Durchsetzung der Zahlungen, sei es mit diplomatischen oder mit militärischen Mitteln.
Im Fall des venezolanischen Eisenbahnbaus waren die Geldgeber keine Einzelanleger, sondern mit der Disconto-Gesellschaft eine große deutsche Bank, die im Verein mit Industriellen wie Krupp und dem Handelshaus Blohm agierte. Als Venezuela den Schuldendienst einstellte und zudem die diplomatischen Mittel versagten, entschloss sich das Deutsche Reich zusammen mit Großbritannien zu einer militärischen Intervention. Die Blockade der Jahre 1902/03 rief die USA als Ordnungsmacht auf den Plan, sodass die ökonomische Wirksamkeit der Aktion ausblieb. Überhaupt stieß die "Kanonenbootdiplomatie" jener Zeit an ihre Grenzen. Hier setzt die zentrale Frage des Autors nach den Institutionen an, die dem Problem der fehlenden internationalen Finanzkontrolle begegneten. Als neue Rechtsinstitutionen hebt er neben der Haager Konvention von 1907 vor allem die internationalen Schiedsgerichte in der Finanzmetropole London hervor, die die Anwendung von Gewalt bei der Eintreibung von Schulden eindämmen sollten. Einen wirksamen Gläubigerschutz boten sie indes nicht, konnten aber als neutrale Instanzen manchmal zumindest einen Interessenausgleich herstellen.
Mit dem Ersten Weltkrieg trat ein bedeutender Bruch ein: Deutschland wurde vom Kapitalexporteur zum Kapitalimporteur. Angesichts der hohen finanziellen Außenbelastung durch politische Schulden, sprich die Reparationen, nahm die deutsche Reichsregierung in den 1920er-Jahren bei US-amerikanischen Banken Kredite auf. Die Umkehrung der vorherigen Situation böte den Ansatz für einen interessanten Vergleich. Jedoch beschränkt sich die Untersuchung auf die innerdeutsche Perspektive und leuchtet das Handeln der Akteure im Krisenjahrzehnt bis 1930 aus. Hinsichtlich der verhängnisvollen Folgen des internationalen Kapitalkreislaufs vermag der Autor den Erkenntnissen Albrecht Ritschls nur wenig Neues hinzuzufügen.
Im zweiten Großkapitel wendet sich die rechtshistorische Arbeit dem privatwirtschaftlichen Handeln zu, d.h. Verträgen, die in der Regel zwischen international agierenden Unternehmen geschlossen wurden, sowie deren politischen Rahmenbedingungen. Die Schwierigkeit der Vertragsdurchsetzung ist als ein Problem des internationalen Privatrechts anzusehen. In der Tat wuchs der Welthandel im 19. Jahrhundert sehr stark, was Petersson zutreffend als Folge der internationalen Vermarktung von Stapel- und Massengütern deutet. Die Standardisierung erlaubte es auch kleinen Importeuren, sich am Überseegeschäft zu beteiligen. Hinsichtlich der Vertragstreue trat im Besonderen das Problem der Wechseleinlösung auf. Das "Weltwechselrecht" der internationalen Übereinkünfte von Den Haag 1910/12 sowie Genf 1930 führte partiell zu einer Sicherheit der Finanztransaktionen. Weitere Rechtsfelder, die internationaler Absprachen bedurften, waren die Schiedsgerichtsbarkeit, die Normenkonkurrenz, die Vereinbarung von Handelsklauseln und die Kreditsicherung. Die fortschreitende Anerkennung internationaler Spielregeln und Normen bildete einen wesentlichen Hintergrund für die Handelsexpansion. Erst am Ende des Betrachtungszeitraums wirkten sich illiberale staatliche Sanktionen wie die staatliche Devisen- und Außenhandelskontrolle negativ aus. Bezüglich der Folgen des "außenwirtschaftlichen Regimewechsels" können wirtschaftshistorische Erkenntnisse für die eigene Fragestellung nutzbar gemacht werden.
Die Studie leistet einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte des internationalen Rechts, insbesondere im Bereich des Wirtschaftsrechts. Die Rahmenbedingungen der ökonomischen Globalisierung werden ebenso überzeugend dargestellt wie die vielfältigen Möglichkeiten der Institutionalisierung internationaler Wirtschaftsbeziehungen. Gemäß ihrem Titel verbleibt die Arbeit im Kontext des Deutschen Reichs, nur die britische Entwicklung klingt zuweilen als Vergleichsmaßstab an. Gänzlich fehlt die im 19. Jahrhundert bedeutende Rolle Frankreichs als Kapitalexporteur, die von Gilbert Ziebura so genannte "arme financière", die das Rückgrat des französischen Finanzimperialismus bildete. Die Auseinandersetzung mit der internationalen Imperialismusforschung fällt insgesamt weniger überzeugend aus als die Einbeziehung wirtschaftshistorischer Studien und Konzepte, vorzugsweise der Institutionenökonomik. Auf dem Kerngebiet der Rechtsgeschichte legt Petersson jedoch eine fundierte Darstellung einer wesentlichen Globalisierungsetappe der modernen Welt vor.
Marcel Boldorf