Thomas M. Kavanagh: Enlightened Pleasures. Eighteenth-Century France and the New Epicureanism (= The Lewis Walpole Series in Eighteenth-Century Culture and History), New Haven / London: Yale University Press 2010, VII + 254 S., ISBN 978-0-300-14094-1, GBP 30,00
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Thomas Kavanagh lässt sich in seiner Untersuchung über den Epikureismus des französischen 18. Jahrhunderts von der übergeordneten Vermutung leiten, dass zwischen dem christlichen und dem bürgerlichen Zeitalter in Frankreich eine moralische Interimsphase auszumachen ist, in der eine Ethik des Genießens durch Künstler, Schriftsteller und Philosophen etabliert wurde. Die Perspektive dieser Hypothese ermöglicht es ihm, die emanzipative Wirkungsweise der epikureischen Konzeption von Sinnen und Sinnlichkeit sowohl gegen die christliche Sündenlogik als auch gegen die bürgerliche Verantwortungsethik herauszuarbeiten und den Epikureismus damit als spezifisch aufklärerisches Phänomen darzustellen, wenn man mit Kavanagh unter der Aufklärung nicht nur das kantische Wagnis zu wissen sondern auch das vorgelagerte Wagnis zu fühlen versteht.
In der überaus lesenswerten Einleitung stellt Kavanagh das Phänomen des "neuen Epikureismus" in den Gesamtzusammenhang der Aufklärung und ihrer Rezeptionsgeschichte und ordnet die Ideen dieser eigenständigen Nebenströmung der Aufklärung in die Entwicklung von sensualistischer Erkenntnis- und Subjekttheorie ein. Als Gewährsmann für die These, dass es sich bei dem neuen Epikureismus um das Zusammenziehen antiker epikureischer und stoischer Inhalte handelt, zitiert Kavanagh die einschlägigen Enzyklopädieartikel Diderots und plausibilisiert somit erfolgreich im Zusammenspiel mit den Abgrenzungen und Gemeinsamkeiten zu Cartesianismus und Materialismus, dass der Begriff des neuen Epikureismus eine eigenständige ideengeschichtliche Strömung bezeichnet.
Nach der reichhaltigen philosophiegeschichtlichen Einleitung folgen acht Kapitel über französische Novellen, Gemälde, philosophische Abhandlungen und Theaterstücke, in denen eine mehr literaturwissenschaftlich und kunstgeschichtlich verfahrende Untersuchung mit dem philosophischen Erkenntnisinteresse kombiniert wird, die Komplementarität von Genusslehre einerseits und Materialismus, Säkularisierung und Sensualismus andererseits nachzuweisen.
In den Novellen "Le Guerrier philosophe" von Jourdan und "Angola" von Molière sowie der Boyer d'Argens zugerechneten, autobiographischen Schrift "Thèrese philosophe" stellt Kavanagh jeweils den Zusammenhang von Genusskonzept und Aufklärungsmotiven dar. Sowohl die Kontextualisierung der Autoren als auch des jeweiligen Werks in die Ideengeschichte der Aufklärung ermöglichen, das herausgearbeitete Genusskonzept im Lichte unterschiedlicher aufklärerischer Motive und Wirkungsweisen zu betrachten. Anhand des Nachweises der Verbindung von stoischen und epikureischen Elementen in den jeweiligen Darstellungen des Genießens und dessen Wirkungen auf das Subjekt zeigt Kavanagh, wie sich die Novellen als Beispiele des neuen Epikureismus verstehen lassen.
Auch das Kapitel über die Gemälde von Boucher unterstützt die These des neuen Epikureismus und dient zugleich als Beispiel der visuellen Darstellung des Genusses. Die Rolle des Betrachters, bei den Novellen war es die teilnehmende Leserschaft, wird dabei ebenso thematisiert wie der Zusammenhang der abgebildeten Darstellungen mit dem Konzept der Sinne und der Sinnlichkeit im neuen Epikureismus. Die spezifisch aufklärerischen Aspekte von Körperaufwertung und Sensualismus sowie Genuss und Distanz des Beobachters bezüglich der dargestellten Erotik in Bouchers Bildern werden von Kavanagh durch die Hinzunahme des zeitgenössischen Kunstkritikers Du Bos in einem Wechsel von Bildanalyse, Kontextualisierung und Interpretation präsentiert.
In den drei aufeinander folgenden Kapiteln über Rousseau, Laclos und den jüngeren Bruder von Mirabeau zeichnet Kavanagh schließlich die mehr philosophische Auseinandersetzung mit dem neuen Epikureismus nach. Entsprechend seiner finalen These, dass die bürgerliche Moral des Republikanismus den Epikureismus als Lebensweise der aristokratischen Herrscher diskreditiert, wird natürlich auch Rousseau eine kritische Position zum neuen Epikureismus zugeordnet. Kavanagh sieht im Rousseau'schen Werk die beginnende Trennung von individuellem Genuss und kollektiver Freiheit, die Rousseau durch sein autobiographisches Spätwerk in seiner Person selbst verkörpert und dadurch auch noch nicht eindeutig zugunsten der genussfeindlichen Bürgermoral entschieden hat. Ebenso ambivalent wird das Verhältnis von sensualistischer Anthropologie und politischer Tugend bei Rousseau beschrieben, das Kavanagh im Zusammenspiel verschiedener Bildanalysen spannungsreich und tragisch darstellt. Laclos wird als eine Art Antwort auf Rousseau anhand seines Essays über die Frauenerziehung in den Diskurs des neuen Epikureismus eingeführt. Doch gerade durch die Hinzunahme seiner Novelle "Les Liaisons dangereuses" wird der vermeintliche Epikureismus Laclos' als Ironisierung desselben entlarvt, die in durchaus emanzipatorischer Absicht dem weiblichen Lesepublikum einen stoischen oder strategischen Umgang mit den epikureischen Männern empfiehlt. Dagegen schließt die philosophische Auseinandersetzung mit Mirabeaus Novelle "La Morale des Sens" eindeutig zugunsten des neuen Epikureismus, dessen gesellschaftskritische und emanzipative Dimension hier geradezu paradigmatisch herausgearbeitet wird.
Nach dem Kapitel über das französische Theater im 18. Jahrhundert, das als soziale Praxis subjektiven Genuss und soziales Miteinander vereint, setzt Kavanagh einen letzten Höhepunkt in seinem Fazit: Die in der Einleitung und im Rousseau Kapitel angedeutete These über das Ende des neuen Epikureismus durch die revolutionäre Bürgermoral wird anhand der Autoren La Mettrie, de Sade und Saint Just nachgezeichnet. Demnach scheitert der neue Epikureismus sowohl immanent durch einen übertriebenen Materialismus als auch von außen verursacht durch die totalitäre Bürgermoral.
Innerhalb der ideengeschichtlichen Aufklärungshistoriographie nimmt Kavanaghs Darstellung des französischen Epikureismus in mehreren Hinsichten eine besondere Stelle ein: es handelt sich um eine ungewöhnliche Verbindung von ideengeschichtlicher These und literatur- sowie kunstgeschichtlicher Methode; das Phänomen des neuen Epikureismus erhält einen eigenständigen Stellenwert gegenüber der gewöhnlichen Fokussierung auf Entwicklungen der Erkenntnistheorie, der politischen Philosophie und der Sozial- und Moralphilosophie; die Französische Revolution wird von Kavanagh als Beginn einer repressiven und nicht emanzipativen Gesellschaftsordnung gedeutet. Damit reiht sich Kavanagh zwar in das progressive Aufklärungsnarrativ ein, wie es klassischerweise von Ernst Cassirer oder neuestens von Jonathan Israel vertreten wird, unterscheidet sich jedoch signifikant in der repressiven Deutung der Politisierung der Aufklärung.
Die Besonderheit der Darstellungsweise, der ungewöhnliche Phänomenbereich und die provokante Metathese stellen sicherlich die Hauptstärken dieses Buches dar, das jedoch auch durch originelle Verknüpfungen, eine komplex erzählende aber konsistente Argumentation und einem Wahrnehmen der Geschlechterperspektive glänzt. Angesichts der provokanten These einer repressiven revolutionären Bürgermoral hätte man sich jedoch eine breitere und tiefere Diskussion gewünscht, so dass Einleitung und Schluss zwar Perspektiven eröffnen aber keine Auseinandersetzungen bieten. Insgesamt ein besonders für Aufklärungsinteressierte lesenswertes Buch.
Dagmar Comtesse