Christoph Markschies / Hubert Wolf (Hgg.): Erinnerungsorte des Christentums, München: C.H.Beck 2010, 800 S., 126 Abb., ISBN 978-3-406-60500-0, EUR 38,00
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Es sind mehr als 25 Jahre her, dass französische Historiker den Zusammenhang von Erinnerung und Geschichtsschreibung zum Thema machten. 1984 erschienen in Paris die Lieux de mémoire, herausgegeben von Pierre Nora. Zuletzt waren es sieben Bände. Die Schweizer, moderat wie sie sind, folgten nach einigen Jahren. Sie brachten nicht nur Wilhelm Tell in Erinnerung, nein, sie beschrieben auch die Toblerone und das Militärmesser. Zwei deutsche Theologen, medienstark wie sie sind, haben nun nachgezogen und präsentieren 42 Erinnerungsorte des Christentums. Ausgewogen wie sie sind, haben sie katholische und protestantische und ein wenig auch orthodoxe Zentren darstellen lassen; den Orthodoxen wurde nur Konstantinopel gegönnt, das sie sich auch noch mit dem Islam teilen müssen.
Das Buch kommt mit seinen 800 Seiten überaus stattlich daher; der Beck-Verlag hat ihm alle Aufmerksamkeit zukommen lassen. Einleitend erklären uns die Herausgeber, das Christentum sei nichts anderes "als eine große Topographie von Erinnerungsorten" (11). Das klingt, als wollten sie es einsargen, neben Schneewittchen. Aber sie fahren fort, indem sie ihre Kriterien der Auswahl abgeben: "Christliche Erinnerungsorte sind dann aber auch alle Orte, Personen, Ereignisse, Institutionen und Texte, an denen sich im Verlauf der Geschichte das Gedächtnis an Jesus Christus in besonderer Weise verdichtet hat." (21). Dazu würden sieben Bände kaum ausreichen, zumal 'Texte' mit aufgenommen werden sollen und kein Hinweis erfolgt, mit welcher Methode die Verfasser arbeiten sollten: historisch, theologisch, bekennerhaft oder gelehrt. Texte werden nur sehr ausnahmsweise erörtert: Bibel, Gesangbuch und das päpstliche Rundschreiben Humanae Vitae, also weder die alten Glaubensbekenntnisse noch Augustins Gottesstaat noch Calvins Institutio.
Die ausgewählten Orte werden in drei Gruppen beschrieben: Zuerst kommen acht 'Zentralorte' wie Sinai, Jerusalem, Rom, Wittenberg und Genf, dann folgen 14 Erinnerungspunkte, die 'Reale Orte' heißen - als wäre Rom kein realer Ort: Hier findet der Leser Altötting und Bethel, Leipzig und Regensburg. Die größte Gruppe bilden symbolische 'Orte' wie 'Kreuz' und 'Maria', Hölle, Fegefeuer, Kanzel und Schule. Hier ist das Wort 'Ort' im übertragenen Sinn genommen: Jedem Zettelkasten jedes Kenners des Christentums wird Tür und Tor geöffnet. Es entsteht ein buntes Bild, auch mit persönlichen Erinnerungen wie die an den Heiligen Martin, an dessen Festzug Christoph Markschies und Hubert Wolf in ökumenischer Eintracht teilnehmen.
Die Herausgeber wimmeln eingangs den Einwand ab, dass wichtige Orte fehlen. Nichts sei leichter, als weitere Orte zu nennen. Diese Widerlegung überzeugt nicht ganz. Denn dass Mailand, nicht nur wegen Ambrosius und Augustin, wichtiger ist als Taizé, dass der Traditionsstrang von Oxford nach Böhmen (Ockham, Wycliff bis Hus) bedeutender ist als Bethel, darüber dürfte man sich einigen können. Merkwürdigerweise fehlt Paris als Zentrum christlichen Denkens von Abaelard über Petrus Lombardus und Thomas von Aquino bis Pascal. Der Titel des Buches heißt: Erinnerungsorte des Christentums, aber der Akzent liegt einseitig auf dem deutschen Sprachraum. Die Herausgeber glaubten, auf fremdsprachige Mitarbeiter verzichten zu können. Das hat auch den Themenkreis eingeengt; die Geschichte des Christentums ist weiter. Vor allem kommt die Dramatik der intellektuellen Arbeit an seinem Selbstverständnis zu kurz. Meister Eckhart kommt nur als lokales Kölner Ereignis vor; Erasmus wird kurz abgefertigt als Gegner Luthers und als habe er keine guten Gründe gehabt, die Diskussion über den Römerbrief den lateinischlesenden Fachleuten vorzubehalten. Ich plädiere für Basel statt Bethel. Ein Christentum ohne Alexandria (Clemens und Origenes) und Kopenhagen (Kierkegaard), zwar mit Montecassino, aber ohne Anagni kommt engbrüstig daher. Dante kommt beklagenswert dünn, nur in stofflicher Nacherzählung vor, nicht als christlicher Denker.
Einige Erinnerungsorte lösen sich bei kritisch-historischer Betrachtung auf. Sie bringen das gar nicht, wofür sie gerühmt werden. Das zeigt Gert Melville informativ am Beispiel Montecassino, aus dem zu erfahren ist, dass niemand weiß, wo die Gebeine des Gründers des Benediktinerordens wirklich liegen. Und dabei gelten ihm doch die Wallfahrten. "Erinnerungsorte" werden 'gemacht'. Sie werden synthetisiert und mit Legenden ausgebessert. Selbst der Berg Sinai bleibt vor Entmythologisierung nicht verschont. Der Aufsatz von Rudolf Smend über Sinai ist ein Musterstück durch Forschung und klare Sprache. Sein Ergebnis: "Im Falle Sinai läßt sich gar nichts beweisen" (145). Und speziell für fromme Ohren: "Die Versuche, den biblischen Sinai auf der Landkarte zu fixieren, werden nicht aufhören. Aber sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit immer ins Leere gehen" (146). Ich rate jedem Leser, mit diesem Exempel der besten Göttinger Tradition zu beginnen. Er sollte fortfahren mit einem ähnlich solide gearbeiteten katholischen Gegenstück, mit dem Artikel von Norbert Lüdecke über die Pillenenzyklika Humanae vitae. Selbst wer glauben würde, er erinnere sich gut an die damaligen Debatten, erfährt hier in verlässlicher Dokumentation Neues.
Wenn ich noch Lesenswertes herausgreifen darf: Manfred Weitlauff berichtet vom Wallfahrtsort Altötting in einer sympathisch-präzisen Studie, die unerwartete Diskontinuitäten nicht verschweigt. Lebendig und informativ führt Heribert Müller nach Köln. Eine gewisse papalistische Verengung muss man ihm nachsehen; er hält das Spektakel von Papstbesuchen für wichtiger als die Arbeit des Albertus Magnus, aber dafür bringt er schönes lokales Gedöns und vergegenwärtigt die Stimme von Heinrich Böll, der in Sachen Christentum mitreden konnte. Er sagte einmal öffentlich, das frühe Christentum habe sich mit dem Thema 'Familie' nicht befasst, erst Woityla habe das Christentum zu einer Familienreligion umgedeutet. Das war frisch und einseitig, aber man erinnert sich daran, wenn man den Artikel 'Familie' von Franz-Xaver Kaufmann mit seinem Soziologendeutsch gelangweilt zu Ende gelesen hat.
Der starke Band enthält leserfreundliche Überraschungen. Grade auch unter der anfechtbaren Kategorie der "übertragenen Orte". Man blättert gern darin und bleibt immer wieder einmal belehrt hängen. Hervorheben möchte ich von Christoph Markschies den Essay über das 'Kreuz' und von Wolfgang Brückner: 'Heiliges Blut', auch den Aufsatz von Christoph Auffahrt: 'Himmel - Hölle - Fegefeuer I'.
Bei der Fülle guter Arbeiten verdienen auch die weniger gelungenen erwähnt zu werden. Rom, zweifellos ein Zentralort, fand einen prominenten Bearbeiter in Walter Kardinal Kasper. Er redet von Rom, ohne ein Wort über die antike Weltmacht zu verlieren. Er führt durch die Stadt, ohne das Forum und den Palatin zu erwähnen. Rom besteht für ihn nur aus Kirchen und dem Vatikan. Und seine Sprache: Die Katakomben lobt er, weil sie "bis heute eine ungebrochene Faszination ausüben" (108). Von Raffael teilt er uns die Neuigkeit mit, er sei "einer der ganz großen Maler der Renaissance" gewesen (123). Wie recht er hat! Dafür unterbricht er seinen Bericht, der einem historischen Erinnerungsort gelten soll, immer wieder durch Erbauliches. Er steht vor Tausenden von Gräbern der Katakomben und meditiert: "An jedem dieser Gräber tut sich eine Lebensgeschichte auf und noch mehr eine Hoffnung." (108). An diesem Satz ist fast jedes Wort falsch. Der Kardinal, nehme ich an, hatte keine Zeit und veröffentlicht hier seine Notizen, die er sich für den Fall angelegt hat, dass er schwäbische Pfarrhaushälterinnen durch die Ewige Stadt führt.
Wolfgang Huber beschreibt Wittenberg. Giordano Bruno kommt da nicht vor, obwohl er ein Loblied auf die Lutherstadt gedichtet hat. Was er über Luthers Entwicklung schreibt, entspricht dem Stand der fünfziger Jahre, da man noch glaubte, ein weltgeschichtliches Ereignis mit dem Ringen eines jungen Mönchs um einen gnädigen Gott erklären zu können. Huber rühmt an Luther, der die Willensfreiheit leidenschaftlich bekämpft hat, er habe den "Wind der Freiheit in die fest gefügte mittelalterliche Welt" gebracht (158). 'Freiheit' sei ein "Grundzug der Reformation" (159), obwohl zuzugeben ist, dass sie mit der Kirchenherrschaft der Territorialherren endete. Huber hatte auch keine Zeit. Er kam offenbar nicht dazu, Luthers De servo arbitrio zu studieren. Wie hätte er sonst schreiben können, es sei ihm um "die Verbindung von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit" (163) gegangen. Das war aber die Position des Erasmus, den er beschimpfte. Huber kam nur bis zur 'Freiheit eines Christenmenschen'. Nachdem er von Luther Rühmenswertes gesagt hat, und nur dieses, deklamiert der Ex-Bischof von der Notwendigkeit einer "zweiten Reformation". Er übt die lutherische Rhetorik des Jahres 1917 ein, um das Jubiläum von 2017 vorzubereiten, das ihm mehr am Herzen liegt als Luthers Schriften.
Das ist, nur pompöser ausgedrückt, die Hoffnung, die den römischen Kardinal vor jedem (!) Katakombengrab erfüllt hat. Die beiden Kirchenfürsten machen in diesem schönen Buch keine gute Figur.
Kurt Flasch