Simone Haeberli: Der jüdische Gelehrte im Mittelalter. Christliche Imaginationen zwischen Idealisierung und Dämonisierung (= Mittelalter-Forschungen; Bd. 32), Ostfildern: Thorbecke 2010, 344 S., Mit 16 z.T. farbigen Abbildungen., ISBN 978-3-7995-4283-8, EUR 52,00
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Jüdische Gelehrte stellten nach Auffassung der Germanistin Simone Haeberli "für christliche Denker des Mittelalters [...] ein konzeptionelles Problem, oftmals eine richtiggehende Provokation nicht nur theologischen Ausmaßes" (2) dar. Von Idealisierung und Neid bis hin zu Verachtung und Verteufelung seien ihnen in mittelalterlichen Texten christlicher Provenienz Wertungen unterschiedlichster Art zuteil geworden, was bislang noch niemand im Zusammenhang untersucht habe. Diese Forschungslücke zu schließen, bezweckt vorliegende Berner Dissertation von 2008. Die aus Bibel und Geschichte bekannten oder aber völlig fiktiven Personen und Figuren, um die es geht, waren "in aller Regel [...] Religionsgelehrte" (3), nur in Ausnahmefällen auch Ärzte beziehungsweise Naturwissenschaftler. Angezielt wurde also eine "Vorstellungsgeschichte" (7), und zwar hauptsächlich anhand mittel- oder frühneuhochdeutscher erzählender Literatur von circa 1150 bis zum späten 15. Jahrhundert - mit einigen Seitenblicken auf französischsprachige Schriftzeugnisse - im zentralen Teil III (125-294) des Buches. Am Rande sind auch einige Bildquellen in die Betrachtung miteinbezogen worden.
Im einführenden Teil I (15-65) werden vor allem "konzeptionelle Rahmenbedingungen mittelalterlicher Judendarstellung" geschildert, wie die Bedeutung der Typologie, der Wandel des Christusbildes oder die Rolle der Juden in den einzelnen Abschnitten der Heilsgeschichte aus christlicher Sicht. Dadurch wird nicht vorgebildeten Leserinnen und Lesern das Verständnis der nachfolgenden Kapitel erleichtert. Kaum befriedigen kann demgegenüber die allzu knappe Erläuterung der Quellenauswahl für Teil III. Man erfährt lediglich, es handle sich neben den "wirkungsmächtigsten und einflussreichsten Werke[n] des Mittelalters" auch um "entlegene Texte" (10). Wie repräsentativ diese sind oder welche Suchstrategie verwendet wurde, bleibt offen.
Im viel kürzer als Teil III gehaltenen Teil II (67-124) werden lateinische Quellen ganz anderer Art ausgewertet, um einen Eindruck davon zu geben, wie seit der Spätantike - konkret: seit dem hier prägend wirkenden Kirchenvater Hieronymus - und sodann vom 9. bis zum 13. Jahrhundert christliche Theologen auf der Suche nach und in Auseinandersetzung mit der Hebraica veritas in den Büchern der Juden von deren Gelehrten bis hin zu den nach und nach rezipierten überragenden Rabbinen wie Raschi und Maimonides gesprochen respektive geschrieben haben. Der den Autoritäten des Judentums insbesondere im Rahmen des Bibelstudiums von christlicher Seite gezollte Respekt wandelte sich mit zunehmender Rezeption des talmudischen Schrifttums bekanntlich zu stark gesteigerter Polemik gegen die jüdischen "pseudo-doctores". In diesen im Großen und Ganzen der Chronologie folgenden Kapiteln werden die Ergebnisse der einschlägigen Forschung kenntnisreich "abgearbeitet" und gelegentlich sogar Positionen etablierter Experten beherzt kritisiert (92). Wie generell auch im dritten Teil erfolgt dabei erfreulicherweise stets ein direkter Rückgriff auf die Quellen, die sich nicht selten auch außerhalb der Fußnoten in extenso zitiert finden.
Im dritten Hauptteil ist Simone Haeberli zu einer Kombination aus an Motivgruppen ausgerichteter thematischer und chronologischer Gliederung übergegangen. Vorgestellt und vorbildlich analysiert werden dort in vergleichender Betrachtung des oftmals höchst vielfältigen Bearbeitungs- und Variantenreichtums einzelner Stoffe vornehmlich die für Haeberlis Fragestellung relevanten Judenbilder im Alexanderroman und in der Silvesterlegende. Steht in dieser das unausweichliche Scheitern jüdischer Gelehrter und Magier im - vorher von Haeberli in den historischen Kontext gerückten - Religionsdisput im Mittelpunkt, so präsentiert sie jener als "Instanzen der Weisheit und des zuverlässigen Urteils". Eine Reihe weiterer in diesem Zusammenhang behandelter volkssprachlicher Quellen - die Kreuzauffindungslegende, das Evangelienwerk des "Österreichischen Bibelübersetzers", der nicht authentische "Brief des Rabbi Samuel" und andere mehr - vermitteln auf verschiedene Weise ein Klischee von jüdischen Gelehrten als Zeugen "im Dienst des Christentums". Für das 15. Jahrhundert konstatiert Simone Haeberli abschließend eine starke Tendenz zu eindimensional beziehungsweise radikal negativen Zeichnungen jüdischer Rabbinen als "Witzfiguren" (265-294). Allerdings kann sie diesbezüglich fast nur das Beispiel Nürnberger Handwerkerdichter wie Hans Rosenplüt und - weitaus drastischer, überzeugender und gleichsam unvermeidlich - Hans Folz bieten.
Simone Haeberli beendet ihre Analyse mit einem Dreischritt aus "Schluss", "Zusammenfassung" und "Fazit", einem auch Ungedrucktes aufführenden Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einem Namenregister. Die sprachlich ansprechend gestaltete Dissertation darf insgesamt als gelungene, umsichtige Bearbeitung der für die gewählte Themenstellung herangezogenen Quellen gelten. Von den in relativ geringer Zahl vorhandenen Druckfehlern abgesehen, haben sich nur wenige Schnitzer eingeschlichen, darunter Monumenta Germaniae "Historiae" (68) statt Historica, "Wien (Neustadt)" (79, im Register: "Wien") statt Wiener Neustadt, "la Bibel de l'abbé Etiene de Citeaux" (95, 317) statt "la Bible de l'abbé Étienne de Cîteaux", "Nikolaus von Donin" (118) statt Nikolaus Donin, "Glosen" (119 f.) statt Glossen, englisch "predesessor" (123, 316) statt predecessor, "Maxenius" (154 und auch im Register) statt Maxentius, "Brepols" (183) als Erscheinungsort statt Verlag, die Angabe, Maximilian I. habe seit 1493 als "Kaiser" (287) amtiert, und die Auflistung von "Nicholas von Lyra" und "Nikolaus de Lyra" als zwei verschiedene Personen im Register.
Dies sind selbstverständlich nur Kleinigkeiten. Es besteht aber auch Grund zu sonstiger Kritik. Erstens ist nicht einzusehen, warum auf Umschlag und Titelseite der den Haupttitel inhaltlich stark einschränkende Untertitel so klein gedruckt wurde. Überhaupt wäre ein Titel wie "Christliche Imaginationen jüdischer Gelehrter im Mittelalter" angemessener gewesen. Zweitens ist es bedauerlich, dass nicht wenigstens die in einem voluminösen Themen-Band von Wolfgang Bunte leicht greifbare mittelniederländische Literatur mitberücksichtigt wurde, die zum Beispiel mit der Erwähnung von zwei Juden aufwartet, von denen der eine als einer der besten Meister in der Kunst der Astrologie aller Zeiten und der andere, "Meister Abrion von Trier", als ein umfassend gebildeter weiser Magier charakterisiert wird.[1] Drittens scheint dem Rezensenten die Behauptung im Klappentext, Simone Haeberli habe zu demonstrieren vermocht, "dass die christliche Bewertung jüdischer Gelehrsamkeit jeweils eng mit der ökonomischen Bedeutung der Juden in der mittelalterlichen Gesellschaft verknüpft war", im Hinblick auf das "jeweils eng" nicht gerechtfertigt zu sein. Eindringlich vor Augen geführt hat Haeberli indessen, dass "[k]eine andere jüdische Figur [...] so viele Nuancen und Wandlungsmöglichkeiten innerhalb einer Erzählung" kennt (299) wie die von ihr so intensiv betrachtete des jüdischen Rabbis, Wissenschaftlers oder Weisen.
Anmerkung:
[1] Wolfgang Bunte: Juden und Judentum in der mittelniederländischen Literatur (1100-1600), Frankfurt am Main 1989, 341-343.
Gerd Mentgen