Jacques Tardi / Jean-Pierre Verney: Elender Krieg 1. 1914-1915-1916, Zürich: Edition Moderne 2009, 71 S., ISBN 978-3-03731-049-6, EUR 19,80
Buch im KVK suchen
Jacques Tardi / Jean-Pierre Verney: Elender Krieg 2. 1917-1918-1919, Zürich: Edition Moderne 2010, 71 S., ISBN 978-3-03731-066-3, EUR 19,80
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
David Close / Salvador Martí i Puig / Shelley A. McConnell (eds.): The Sandinistas and Nicaragua Since 1979, Boulder / London: Lynne Rienner Publishers 2012
Torsten Diedrich / Winfried Heinemann / Christian F. Ostermann (Hgg.): Der Warschauer Pakt. Von der Gründung bis zum Zusammenbruch 1955 bis 1991, Berlin: Ch. Links Verlag 2009
Petra Terhoeven: Deutscher Herbst in Europa. Der Linksterrorismus der siebziger Jahre als transnationales Phänomen, München: Oldenbourg 2014
Manès Sperber lässt in seinem Roman Wie eine Träne im Ozean Donjo Faber und Professor Erich von Stetten kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ein Buch über den Ersten Weltkrieg schreiben: "Obschon sie sich [...] an den Plan hielten, erkannten sie doch bald, daß das Buch völlig anders wurde, als sie vorgesehen hatten. Nach wie vor interessierte sie im wesentlichen der soziologische Aspekt des Krieges, aber schon verschoben sich die Akzente, immer mehr wurden sie zur anderen Seite abgedrängt, die Kriegstechnik und die Strategie nahmen ihr Interesse in Anspruch. [...] Gierig verschlangen sie die Tausende von Seiten, immer mehr von dem Unglaublichen überzeugt und doch immer aufs neue erstaunt: Millionen Männer waren hingeopfert worden, nur weil die Generale keine Ahnung hatten, wie man solche Kriege zu führen hatte." [1]
In der Tat kann man sich der Verwunderung über die allenfalls taktischen Ergebnisse selbst großer militärischer Operationen nicht erwehren, wenn man etwa im amtlichen Werk Der Weltkrieg 1914-1918 das Resümee zum noch vergleichsweise erfolgreichen Auftakt der Schlacht um Verdun liest: "In achttägigem, schweren Ringen war die französische vorderste Linie auf der Nordostfront der Festung von der Maas bis in die Gegend von Haudiomont um durchschnittlich acht Kilometer zurückgeworfen worden. Mit dem Fort Douaumont, dem größten und stärksten Werk dieses Frontabschnitts, und den Anlagen im Walde von Hardaumont war bereits der nordöstliche Eckpfeiler des äußersten Fortgürtels der Festung gefallen. Jetzt hatte sich aber der Widerstand derart versteift, daß gleich rasche Fortschritte künftig nicht zu erhoffen waren." [2]
Während der Erste Weltkrieg im Bewusstsein der Deutschen eher verblasst ist, wird die Erinnerung an den "Großen Krieg" in Frankreich und Großbritannien noch durchaus schmerzvoll empfunden. Dies hat auch eine größere Bereitschaft zur künstlerischen Auseinandersetzung mit diesem Schlüsselereignis der Moderne zur Folge, wie man nicht zuletzt an den hier zu besprechenden Alben des Comiczeichners Jacques Tardi und des Militärhistorikers Jean-Pierre Verney ersehen kann. Ausgangspunkt für Tardis Beschäftigung mit dem Krieg ist das Schicksal seines Großvaters, der vor Verdun eingesetzt war. In dem schon früher erschienenen, ebenfalls dem Ersten Weltkrieg gewidmeten Band Grabenkrieg hat Tardi dessen wohl scheußlichstes Kriegserlebnis in verstörende Bilder gefasst: Nachts als Essenshohler eingeteilt, gerät er in einen Feuerüberfall. Beim Deckungnehmen landet er mit den Händen im herausgerissenen Gedärm eines verwesenden Toten. Lakonisch dazu der Text: "Mein Horror war der Wundbrand ... ich hab 'ne Pfütze gesucht zum Waschen. Bei dem ganzen Rumgerenne hab ich mich dann verlaufen." [3]
Während Grabenkrieg in episodenhafter Form von der Westfront berichtet, liefert Tardi in Elender Krieg eine chronologische Geschichte des Ersten Weltkriegs, die dessen Hauptereignisse im Bewusstseinsstrom eines französischen Soldaten spiegelt. Im Einklang mit dieser subjektiven Perspektive steht der französische Kriegsschauplatz im Mittelpunkt, die Ereignisse an den anderen Fronten werden allenfalls in einzelnen Bildern gestreift und vom erzählenden Ich mit einem bitteren Kommentar versehen. Tardis bewundernswert detailgetreue Zeichnungen registrieren dabei penibel und auf höchstem technischen Niveau die im Laufe des Krieges eintretenden Veränderungen an Waffen, Uniformen und Geräten; mitunter erkennt man die Fotografien, die ihm als Vorlage dienten. Während die Jahre 1914 und 1915 noch weitgehend in Farbe gehalten sind, herrscht ab 1916 ein düsteres Blaugrau vor, das nur noch gelegentlich durch blutig hineinkoloriertes Rot oder die braune Uniformfarbe der Briten und Amerikaner akzentuiert wird. Fast programmatisch dazu der Text bei einem der ersten Bilder von 1916: "Im Januar schneite es. Das sah zwar sauber aus, aber manchmal fielen rote Flocken aus Menschenfleisch vom Himmel herab auf das reine Leichentuch dieses Schlachtfeldes."
Die von Tardi gezeichneten Menschen sind etwas weniger naturalistisch als das Material. Die lange Abfolge zerschossener und zersprengter Körper, verdrehter und verwesender Leichen wird dadurch etwas erträglicher, dass es sich um leicht knautschige Comicfiguren handelt. Im zweiten Band steigert Tardi den Schrecken seiner Bilder aber noch einmal dadurch, dass er immer wieder die Zerstörung des Gesichtsschädels, eine durch die häufigen Kopfschüsse im Grabenkrieg nicht seltene Verwundung, darstellt. In seinem Bilderzyklus zur Offensive am Chemin des Dames sehen wir einen Soldaten vorwärts stolpern, aus dessen Gesicht ein dicker Blutschleimtropfen da hervorquillt, wo zuvor der Unterkiefer war. Ans Ende des Jahres 1918 hat er zwei Seiten mit zerstörten Gesichtern gestellt, deren fotografische Vorlagen aus den militärchirurgischen Atlanten der Nachkriegszeit stammen und in Deutschland durch das 1924 erschienene Antikriegsbuch "Krieg dem Kriege!" [4] eine weite Verbreitung fanden. Tardis jammervolle Kreaturen sind dabei weit entfernt von der zynischen Wurstigkeit, mit der Otto Dix 1920 ähnlich entstellte Veteranen als "Skatspielende Kriegskrüppel" ins Bild setzte. Weit näher dürfte Tardi der DDR-Maler und ehemalige Waffen-SS-Soldat Bernhard Heisig stehen, der den Krieg ebenfalls als alles zermalmende Pornographie der Zerstörung malte. [5]
Eine Voraussetzung für die dokumentarische Präzision von Tardis Comics ist dessen Zusammenarbeit mit Jean-Pierre Verney, der für das französische Verteidigungsministerium tätig war und eine bedeutende Sammlung zum Ersten Weltkrieg zusammengetragen hat. In Elender Krieg hat Verney die Rolle des Beraters hinter sich gelassen und einen mit Fotos vorbildlich illustrierten Aufsatz über das Kriegsgeschehen beigesteuert. [6] Viele der Zusammenhänge, die Tardi in seiner Bildergeschichte nur andeutet, werden hier erläutert. Kenntnisreich schildert Verney, wie sich die Strategien der Generale und die Evolution der Kriegstechnik auf die Soldaten auswirkten. Am Ende der nach Jahren gegliederten Kapitel folgen Angaben zu den von beiden Seiten erlittenen Verlusten. Wie im Comic ist auch in Verneys Essay ein bitteres J'accuse! das Leitmotiv der Geschichtserzählung. In beiden Fällen ist der vornehmliche Adressat der Anklage die französische Führung, die, gestützt auf eine rigide Militärjustiz, die eigenen Soldaten bedenkenlos dem Wunderglauben an die Offensive à l'outrance opferte. Bezeichnenderweise ist der einzige General, dem Tardi ein Bild widmet, der "Blutsäufer" Robert Nivelle, der die französischen Truppen zunächst vor Verdun in mörderische Gegenangriffe hetzte, um sie dann mit der Offensive am Chemin des Dames in die Meuterei zu treiben. Im Comic folgt sein Bild dem dreiseitigen Protokoll der kriegsgerichtlichen Verurteilung und standrechtlichen Erschießung eines französischen Soldaten: "Ein Unteroffizier gab ihm den Gnadenschuß, den Lauf seines Revolvers oberhalb des Ohrs, fünf Zentimeter vom Kopf entfernt. Vorschriftsgemäß."
Tardis Wut richtet sich immer wieder gegen zentrale Mythen der französischen Kriegserinnerung: Die "Voie Sacrée", die Hauptnachschubstraße nach Verdun, kommt dabei ebenso wenig ungeschoren davon wie ein archaisch anmutendes Instrument der Nachrichtenübermittlung: die vielfach verklärten Brieftauben, mit denen das eingeschlossene Forts Vaux die Führung auf dem Laufenden hielt, während die Besatzung vor Durst den eigenen Urin trank und ihre Toten in dem eigentlich zur Behandlung der Fäkalien vorgesehenen Chlorkalk verscharrte. Die Heftigkeit von Tardis Anklage ist wohl auch eine Reaktion auf die gleichsam heilsgeschichtliche Überhöhung, die die offizielle Erinnerung an den Krieg in Frankreich prägte und insbesondere in der bildenden Kunst zu christologisch aufgeladenem Kitsch führte. [7]
Die Kirche, die in Frankreich durch die vorbehaltlose Unterstützung des Kriegseinsatzes eine Versöhnung mit dem laizistischen Staat anstrebte, wird in Gestalt ihrer Feldgeistlichen ebenfalls immer wieder zur Zielscheibe von Tardis Erbitterung. Die hasserfüllte Wut auf die im Krieg moralisch restlos bankrott gegangene Gesellschaft, die Tardi seinem erzählenden Ich in den Mund legt, ist dabei durchaus authentisch und war unter den Soldaten aller Kriegsparteien weit verbreitet. In Russland spülte sie 1917 Lenin an die Macht - ein Ereignis, das Hans-Peter Schwarz zu Recht die zweite Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts genannt hat. [8]
Die Empörung über den "imperialistischen Krieg" wurde in Russland von Lenin kanalisiert und zum Ausgangspunkt für einen Krieg gegen die besitzenden Klassen, der mit der militärischen Unterwerfung der Gesellschaft nicht endete, sondern im totalitären Frieden die Gewalt gegen nunmehr Wehrlose in bis dahin ungeahnte Dimensionen steigerte. Allein Maos Großer Sprung nach vorn, um eines der weniger geläufigen kommunistischen Großverbrechen zu nennen, kostete innerhalb von vier Jahren 45 Millionen Menschen das Leben. [9]
Trotz eines ungleich höheren technischen Aufwands blieben die Generale von 1914/18 mit zehn Millionen Toten deutlich hinter solchen Opferzahlen zurück. Der Grund dafür ist einfach: Im nichtnuklearen Krieg zwischen einigermaßen gleichwertigen Gegnern begrenzt die Gewalt der einen Seite die Gewalt der anderen. Im totalitären Frieden findet dagegen die Gewalt ihre Opfer wehrlos vor und kann sich so völlig entgrenzen. Tardis und Verneys leidenschaftlicher pazifistischer Appell kann angesichts der weiteren Geschichte des 20. Jahrhunderts leider nur partiell befolgt werden. Ungeachtet dessen haben sie den Teilnehmern des Großen Krieges einen würdigen, weil der Wahrhaftigkeit verpflichteten Erinnerungsort geschaffen.
Anmerkungen:
[1] Manès Sperber: Wie eine Träne im Ozean. Romantrilogie, München 1981, 571 f.
[2] Der Weltkrieg 1914 bis 1918, im Auftrag des Reichskriegsministeriums hg. von der Forschungsanstalt für Kriegs- und Heeresgeschichte, Band 10: Die Operationen des Jahres 1916 bis zum Wechsel in der Obersten Heeresleitung, Berlin 1936, 102.
[3] Jacques Tardi: Garbenkrieg, Zürich 2002, 28 und 84 ff.
[4] Ernst Friedrich: Krieg dem Kriege! Guerre à la guerre! War against War! Oorlog aan den oorlog!, Frankfurt am Main 1980.
[5] Vgl. dazu Bernhard Heisig / Eckhart Gillen: Die Wut der Bilder, Köln 2005.
[6] Auf Seite 55 ist Verney allerdings ein Fehler unterlaufen. Das mit "Die deutsche Offensive im März 1918" überschriebene Bild zeigt britische Soldaten.
[7] Vgl. dazu François Robichon: Ästhetik der Sublimierung. Die französische Kriegsmalerei, in: Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkriegs, hg. von Rainer Rother, Berlin 1994, 285-300.
[8] Hans-Peter Schwarz: Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten, Berlin 1998, 226.
[9] Frank Dikötter: Mao's Great Famine. The History of China's Most Devastating Catastrophe, 1958-62, London u.a. 2010, 333.
Michael Ploetz