Julie Flavell: When London was Capital of America, New Haven / London: Yale University Press 2010, XII + 305 S., ISBN 978-0-300-13739-2, GBP 20,00
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Als London die Hauptstadt Amerikas war, da... - reisten viele Bewohner der dreizehn Kolonien regelmäßig und für teilweise lange Aufenthalte ins Mutterland. Genau hierum geht es in Julie Flavells Buch, um die amerikanischen Besucher und Einwohner Londons in der Zeit unmittelbar vor dem Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges. Wer angesichts des etwas allgemein gehaltenen Titels eine thematisch breiter angelegte Arbeit erwartet hatte (wie der Rezensent), der sieht sich enttäuscht.
In neun Kapiteln behandelt Flavell die Londoner community der nordamerikanischen Kolonisten, und zwar an Hand einer Reihe von Leitfiguren. Kapitel 1 bis 4 organisieren die Darstellung um die Londonaufenthalte der Plantagenbesitzerfamilie Laurens aus South Carolina, während die folgenden Abschnitte 5 und 6 den Yankee Stephen Sayre aus Long Island näher vorstellen und in den beiden letzten Kapiteln 8 und 9 Benjamin Franklin und seine Familie in den Fokus geraten. Neben den eben genannten hauptsächlichen Protagonisten bevölkert eine Vielzahl weiterer Nordamerikaner das London des späten 18. Jahrhunderts, das Flavell schildert. Denny de Berdt, die DeLanceys oder Ralph Izard finden regelmäßig Erwähnung. Es ist außerordentlich schade, dass Flavell das Schicksal der Kolonisten in London nach 1775 und während des Unabhängigkeitskrieges am Ende nur noch auf ein paar Seiten im Epilog behandelt. Flavell skizziert knapp eine bemerkenswert ambivalente Situation: einerseits wurden führende Vertreter der Kolonien, auch offene Befürworter der Unabhängigkeit, nicht belästigt, andererseits wurde eine genaue Überwachung ihrer Kontakte angeordnet. Leider ordnet die Autorin ihre Erkenntnisse zu den 1760er und 1770er Jahren nicht in eine längerfristige Perspektive ein. Etwas deplatziert wirkt angesichts dieser stark personenbezogenen Herangehensweise in Kapitel 7 ein Abschnitt über "London's American Landscape", der eine breitere Kulturgeschichte des amerikanischen Einflusses auf London skizzieren will.
Flavell interessiert sich in ihrer Darstellung insbesondere für die Faszination, die London auf die Kolonisten ausübte. Eine schulische und akademische Ausbildung, bevorzugt an den Inns of Court, war für viele wohlhabende Amerikaner ein unverzichtbares Statussymbol. Auch die Habitualisierung einer vornehmen Lebensart nach Londoner Vorbild gehörte gerade für die reichen Pflanzer des Südens unbedingt dazu. All dies illustriert die Autorin durch eine Fülle von einzelnen Episoden ihrer Protagonisten. Umgekehrt stehen auch die Wahrnehmungen und Deutungskategorien der Londoner bzw. der metropolitanen Engländer im Zentrum. Ihre Vorurteile gegenüber den Koloniebewohnern werden mehrfach erwähnt. Flavell betont, dass man in England deutlich zwischen den reichen Südstaaten und dem frugalen Neuengland unterschied. Die längste Zeit der behandelten Periode prägte dabei der sklavenhaltende und wohlhabende Süden viel eher das Amerikabild der Londoner als der rustikale Nordosten. Flavell betont immer wieder, wie gerade die Sklaverei und der durch Sklavenarbeit erwonnene Reichtum in London moralisch ambivalent bewertet wurde. Diesem Punkt ist auch das mit Abstand stärkste (zweite) Kapitel des Buches gewidmet, wo an Hand der Geschichte von Henry Laurens mitgereistem Sklaven Scipio/Robert ein Panorama der afrikanischen Lebenswelt Londons gezeichnet wird. Dieser bemerkenswerte junge Mann nutzte die Reise nach England schließlich dazu, um von seinem Herren zu fliehen. Ausgehend von seinem Schicksal, das von Flavell geschickt mit den Erfahrungen anderer Schwarzer in London verknüpft wird, entsteht ein buntes Bild von der Situation der Afrikaner in England.
Im Grunde genommen ist dies ein Buch über London und die Menschen, die in London lebten. Flavell ist in erster Linie daran interessiert, die Lebensverhältnisse der Kolonisten in der Metropole zu rekonstruieren, die (soziale) Topographie der Stadt zu beschreiben und den Einfluss einer 'Londonerfahrung' auf die sozialen und politischen Kategorien der Kolonisten auszuloten. Tiefer oder weiter gehende Fragen drängen in der Darstellung zwar immer wieder an die Oberfläche, werden aber nur anekdotisch und damit nur en passant und implizit angesprochen. Zahlreiche Einzelbeobachtungen betreffen etwa die Frage, ob und inwieweit sich Kolonisten und Einwohner des Mutterlandes bereits mental, sozial und kulturell auseinandergelebt hatten. Immer wieder betont Flavell, es sei für Londoner praktisch unmöglich gewesen, Kolonisten als Einwohner Amerikas zu identifizieren (dies sei nur durch die Begleitung eines Sklaven eindeutig möglich gewesen) - doch was solche Beobachtungen für die Geschichte des englischen empire in größerem Betrachtungsrahmen bedeuten, bleibt unbedacht. Auch die mittlerweile methodisch allgemein anerkannte Tatsache, dass eine Geschichte des Atlantiks als Beziehungsgeschichte der beiden Ufer des Meeres geschrieben werden müsse, wird von Flavell vorausgesetzt, aber kaum einmal explizit thematisiert. Politische Aspekte der englisch-amerikanischen Beziehungen werden entsprechend nur erörtert, insofern als sie unmittelbar den Alltag einzelner Protagonisten betreffen.
Das Buch ist außerordentlich gut lesbar, es ist klar erkennbar auf eine breitere, auch außerakademische Leserschaft ausgerichtet. Die Argumentation erfolgt ausschließlich durch anschauliche Schilderung einzelner Episoden, Beispiele und Personen. Der Text ist dadurch (gewollt) anekdotisch und bleibt jederzeit konkret an den zentralen Akteuren. Das Buch ist dadurch häufig recht vergnüglich, zumal Flavell in der Lage ist, den Charakter ihrer Personen anschaulich zu zeichnen. Am besten gelingt ihr dies bei Stephen Sayre, der als skrupelloser, schmieriger Aufsteiger erscheint. Die gelungene Darstellungsweise, die kunstvoll eine lebendige, personalisierende und episodische Form von Geschichteserzählung inszeniert, ist ausdrücklich in ihrer sorgfältigen Konstruktion zu würdigen. Doch die absichtlich auf leichte Verdaulichkeit abgezweckte Darstellungsweise ist teuer erkauft. Eine konzeptionelle Durchdringung des Materials findet nicht statt, eine eigentliche Fragestellung (über die Präsentation der Amerikaner in London hinaus) fehlt, würde die angestrebte Narration aber wohl auch eher behindern. Hinzu kommt, dass die meisten der behandelten Fälle bereits bekannt sind und (häufig) schon längst monographisch behandelt sind. So bleibt als Gesamteindruck, dass es sich hierbei um einen leicht lesbaren, sehr geschickt gestalteten Einblick in das England und Amerika des 18. Jahrhunderts handelt, dessen Präsentation allerdings kaum analytischen Zug entwickelt.
Markus Friedrich