Elisabeth Röhrlich: Kreiskys Außenpolitik. Zwischen österreichischer Identität und internationalem Programm (= Zeitgeschichte im Kontext; Bd. 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 437 S., ISBN 978-3-89971-553-8, EUR 57,90
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Der österreichische Sozialist Bruno Kreisky war Staatssekretär im Außenamt (1953-1959), Außenminister (1959-1966) und Bundeskanzler (1970-1983). Eine Beschäftigung mit ihm lohnt sich, zumal große Überblicksdarstellungen zur Außenpolitik der Zweiten Republik kaum vorliegen, Detailstudien dominieren und politische Biographien Mangelware sind. Kreiskys Denken und Handeln werden vor dem Hintergrund seiner politischen Jugend 1918-1938 (43-66), der Zeit des Bürgerkriegs und der Emigration (66-100) begriffen. Röhrlich präsentiert bereits hier einfühlsam Grundlagen der frühen Außenpolitik Kreiskys (113-127). Er verkörperte in mehrerlei Hinsicht den seit 1945 staatlicherseits proklamierten "Opferstatus", der nicht von Österreich erfunden, sondern von den Alliierten in der Moskauer Deklaration von 1943 verkündet worden war: Kreisky war Verfolgter der Dollfuss-Schuschnigg-Diktatur, die ihm den Prozess gemacht und ihn eineinhalb Jahre inhaftiert hatte. Nach dem 'Anschluss' gestattete ihm das NS-Regime den Gang ins schwedische Exil (1938-1945), aus dem er nach mehrjähriger Verzögerung erst 1951 zurückkehren konnte (100-112).
Die Moskauer Deklaration versprach auch die Unabhängigkeit Österreichs, die eine der Maximen Kreiskyscher Außenpolitik werden sollte. Röhrlich analysiert verschiedene Themenfelder und führt diese mit Schwerpunkt auf die Jahre von 1953 bis 1966 aus. "Deutsch-Österreichisches" (161-194) wird zutreffend als bedeutsam für Kreisky begriffen. Die politisch-ideologische Abgrenzung vom nördlichen Nachbarn war schwierig, denn Österreich sollte handels-, wirtschafts- und währungspolitisch mit keinem Land so eng verbunden sein wie mit der Bundesrepublik. Dieses Dilemma zu lösen, war ein zentrales Anliegen, wobei Kreisky in der Deutschlandfrage (allerdings erfolglos) vermitteln wollte (183-194). Wiederholt wirkte seine Außenpolitik nach innen, wobei diese von Röhrlich zutreffend als funktional zur Stärkung der nationalstaatlichen Identität verstanden wird. Den Staatsvertrag (1955), an dessen Verhandlungen Kreisky Anteil hatte, bezeichnete er als eines seiner größten politischen Erlebnisse (370). Die junge Eigenstaatlichkeit sah er wiederholt mit Blick auf das gespaltene Deutschland, zu dessen Teilstaaten er ein eigentümliches Verhältnis von Distanz und Nähe (mit pragmatischer Präferenz für die Bundesrepublik) pflegte. Im deutsch-deutschen Verhältnis positionierte er Österreich als eigenständigen Faktor. Die deutsche Einigung (1990) begrüßte er noch im Jahr seines Todes.
Kreiskys Verständnis von Außenpolitik war offen und liberal, unverkennbar seine Sympathie für Minderheitenrechte, wobei er an die Tradition von Otto Bauer - dessen Einfluss auf den jungen wie späteren Kreisky in dieser Studie unterbelichtet, ja gänzlich unerwähnt bleibt - und Karl Renner anknüpfte.
"Südtirol" versteht Röhrlich als relevantes Anliegen Kreiskys (194-219). Nach Ablehnung der Lösung mit Italiens Sozialisten Giuseppe Saragat 1965 durch die Südtiroler Volkspartei betrieb Kreisky keine aktive Südtirolpolitik mehr. Obwohl 1969 mit dem Verhandlungsergebnis eine Grundlage für das "Paket" gegeben war, lehnte Kreisky dieses ab. Das Thema blieb ein psychologisches Hemmnis auf zwischenstaatlicher Ebene. Einen Besuch stattete er Rom nicht ab.
Kreiskys Außenpolitik war weit weniger Süd-, sondern vielmehr Mittel-, Ost- und Nordeuropa-orientiert, erkennbar an aktiver Nachbarschaftspolitik mit den "Ostblock"-Staaten (219-221, 241-251) und guten Beziehungen zu Großbritannien und Schweden. Als kontinuierlicher Verfechter der "immerwährenden Neutralität" blieb sein Verhältnis zur EWG/EG distanziert. Kreiskys Integrations- und Europapolitik (219-241) war von EFTA-Treue und Entspannungspolitik im Rahmen der KSZE gekennzeichnet (letztere kommt in der Studie leider viel zu kurz). Die Quasi-Eingliederung Österreichs in das Europäische Währungssystem (1979) war mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt akkordiert (was ebenfalls nicht berührt wird). Damit war der Weg in die spätere EU geebnet, den Kreisky für die fernere Zukunft nicht ausschloss. Denkanstöße entwickelte er gemeinsam mit Willy Brandt und Olof Palme zur Überwindung des Nord-Süd-Konflikts, was entsprechend tiefergehend gewürdigt wird (330-342).
Bei einer Reihe von Schwerpunkten Kreiskyscher Außenpolitik referiert Röhrlich mehr oder weniger den Stand der Forschung, wobei sie zur Deutschland-, Südtirol- und Europa- bzw. Integrationspolitik nicht immer Neues zutage fördert, obwohl gerade hier mit Blick auf DDR, SPD, den "Modellfall" oder die EG der 1970er Jahre noch einiges zu erforschen wäre. Zu diesen Themenfeldern schlummern noch unausgewertete Akten in der Stiftung Bruno Kreisky Archiv und den internationalen Archiven in Frankreich, Großbritannien oder den USA; zudem wären eine Reihe weiterer wichtiger Zeitzeugen zu befragen. Das muss weiteren Studien vorbehalten bleiben.
Viele der kritisch-dezent vorgetragenen Erkenntnisse über den Umgang Kreiskys mit seiner Biographie im Speziellen und Österreichs Vergangenheit im Allgemeinen sind nicht nur nachvollziehbar, sondern verdienstvoll, auch hinsichtlich dessen zuweilen überzogener Außenpolitik, wenngleich sich deren Erfolge in Grenzen hielten: Die Idee eines "Marshallplans für die Dritte Welt" (258-264) war zu weit gegriffen, das Wiener Institut für Entwicklungsfragen (265-270) zwar eine anregende Denkfabrik, Österreichs Entwicklungshilfe aber selbst höchst bescheiden. Der PLO eine eigene diplomatische Vertretung in Wien zuzubilligen, war innenpolitisch wie international sehr umstritten. Kreisky nahm dafür ein angespanntes Verhältnis zu Israel in Kauf, ein Land, das er nie besuchte. Als Vizepräsident der Sozialistischen Internationale (1976-1989) nutzte er diese Plattform weniger für transnationale Parteienkooperation, sondern vielmehr im Wege von "fact finding missions" zur Lösung des Nahostkonflikts als Vehikel zur Vermittlung (301-319, 319-330). Über Wien als Begegnungsort zwischen Ost und West hinausgehend, profilierte er die Stadt mit "symbolkräftiger Außenpolitik" durch den Bau des UNO-Konferenzzentrums (276-285). Dieses wurde gegen den Willen der ÖVP gebaut, die ein Volksbegehren dagegen mobilisiert hatte. Kreisky nahm Popularitätsverluste in Kauf, setzte sich aber nicht nur in diesem Streitpunkt durch. Drei absolute Mehrheiten (1971, 1975, 1979) sicherten ihm Rückendeckung und ermöglichten ihm ein selbstbewusstes Auftreten auf der Weltbühne.
Die Bilanz der Studie ist positiv: Röhrlichs aus einer Dissertation erwachsenes Werk stellt eine gelungene Mischung aus theoriegeleiteter Biographie-Forschung, Außenpolitikfeld-Darstellung und Memoiren-Analyse dar und liefert zudem einen weiteren Beitrag zur österreichischen Identitätsbildung. Die Autorin hat die relevante Literatur diskutiert und viele Archivdokumente konsultiert, eine alles andere als leicht zu interpretierende, nämlich aufgrund von Herkunft, Sozialisation und Politik sehr facettenreiche Persönlichkeit ausgewogen analysiert wie auch seine Politik ohne moralisierende Urteile dargelegt. Mit dieser Studie liegt eine solide wissenschaftliche Überblicksdarstellung über den österreichischen Staatsmann auf der Bühne der Weltpolitik vor, die bisher gefehlt hat und an der auch weitere notwendige Forschungen nicht vorbeikommen. Röhrlich hat zu Kreisky noch nicht das letzte, aber ein gewichtiges Wort gesprochen.
Michael Gehler