Renée Colardelle: La ville et la mort. Saint-Laurent de Grenoble, 2000 ans de tradition funéraire (= Bibliothèque de l'Antiquité tardive; 11), Turnhout: Brepols 2008, 413 S., 1 CD-ROM, 364 Abb., ISBN 978-2-503-52818-2, EUR 40,00
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Dieser reich bebilderte Band bietet einen zusammenfassenden Bericht der intensiven Grabungskampagnen der letzten Jahrzehnte in und bei der Kirche Saint-Laurent in Grenoble. Damit liegt eine umfassende Bauaufnahme und Funddarstellung vor, die beispielhaft die Entwicklung dieser Kirche von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert nachzeichnet. Das Besondere dieser Ausgrabung liegt in der Lage und Nutzung des untersuchten Ortes: Es handelt sich bei Saint-Laurent um eine Kirche, die außerhalb der mittelalterlichen Siedlung etwas oberhalb am Laufe der Isère und am gegenüberliegenden Ufer der civitas lag. Schon diese Position vor der Stadt und das Patrozinium der Kirche lassen es vermuten: Es handelt sich um ein bereits seit der Antike insbesondere als Bestattungsort genutztes Areal, und damit bieten die Ausgrabungen einen Blick sowohl in die lokale Geschichte Grenobles, als auch auf die Christianisierung des gallischen Südwestens und die Entwicklung von Bestattungssitten vor allem vom 4. bis zum 18. Jahrhundert.
Colardelle schlägt dabei einen Bogen von den Grabungsumständen über die Detailanalysen der einzelnen Fundhorizonte bis hin zu den Möglichkeiten weitergehender Interpretation. Eine allgemeine Einleitung führt in die Lage der untersuchten Kirche im urbanen Zusammenhang und in die Geschichte von Grenoble ein; darauf folgt eine Zusammenfassung des bisherigen Forschungsstands. Deutlich wird die problematische Ausgangssituation von historischer Seite: Die schriftlichen Quellen zu Saint-Laurent sind recht überschaubar. Unter den epigraphischen Quellen sind neunzehn Grabdenkmäler aus der Spätantike und dem Mittelalter greifbar, die sich sicher oder mit höchster Wahrscheinlichkeit dieser Kirche zuweisen lassen, wobei deren Schwerpunkt in den Jahrhunderten des Epochenübergangs liegt; dazu kommen weitere frühneuzeitliche Funde. Archivalisch ist nur wenig über Saint-Laurent bekannt; offenbar war schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts - also vor der französischen Revolution - kaum mehr Material greifbar. So muss man mit indirekten und späteren Zeugnissen Rückschlüsse anstellen, etwa auf die mittelalterlichen Überschwemmungen des Gebiets, die Geschichte des bei der Kirche angesiedelten Benediktinerpriorats - es handelte sich um ein Priorat von Saint-Chaffre im heutigen Ort Le Monastier-sur-Gazeille (Auvergne) - oder den Aufstieg des Priorats zur Pfarre. Für die architektonische Entwicklung lässt sich der Bestand neuzeitlicher Zeichnungen heranziehen; bildliche Darstellungen und Pläne des Areals sind häufiger zu finden, denn die Kirche lag seit dem Spätmittelalter zugleich direkt an einem Teil der Fortifikationen der Stadt Grenoble. Am Anfang der mittlerweile zwei Jahrhunderte umfassenden Geschichte der Erforschung des Gebäudekomplexes steht der Bruder des berühmten Ägyptologen und Entzifferers der Hieroglyphen, Jean-Jacques Champollion-Figeac, der 1803 eine Studie über die unter der Kirche liegende Krypta Saint-Oyand publizierte. Es folgte eine unsensible Restaurierung des Baus in den 1850er Jahren durch den Architekten Pierre Manguin; schließlich kam es zu den zahlreichen und umfassenden, wenngleich noch nicht im gesamten Areal abgeschlossenen Grabungskampagnen der letzten Jahrzehnte. Mit deren Abschluss stellt sich zugleich die Frage nach einer musealen Nutzung der Kirche; auch diesen Aspekt diskutiert Colardelle kurz.
Die Ergebnisse der archäologischen Grabungen sind vor allem für das Frühmittelalter erstaunlich. Unter den in diesem Areal im 4. und 5. Jahrhundert entstehenden Mausoleen stellte sich insbesondere ein Bau im Westen der Kirche als bemerkenswert heraus: Dieses größere Grabgebäude verfügte über einen Raum für die Abhaltung des Totenmahls und wurde zu einem Anziehungspunkt offenbar gerade christlicher Bestattungen. Vielleicht war hier ein später vergessener lokaler Heiliger, etwa Bischof Domninus, bestattet worden, oder/und es könnte sich um die Begräbnisstätte der spätantik-frühmittelalterlichen Bischöfe von Grenoble gehandelt haben, wie Colardelle spekuliert. Diese Überlegungen basieren vor allem darauf, dass die erste Kirche des 6. Jahrhunderts direkt östlich an das große Grabgebäude anschloss und mit diesem verbunden war, während die anderen Grabbauten sukzessive aufgegeben wurden. Die erste Kirche stellt mit ihrem kreuzförmigen Grundriss, dessen vier Arme jeweils wiederum einen Trikonchos bilden, zudem einen solch ungewöhnlichen Bau dar, dass man an eine besondere Nutzung denken muss. Diese Struktur blieb auch bei Um- und Ausbauten des 7. und 8. Jahrhunderts erhalten; erst in karolingischer Zeit verlor die Kirche dann ihre auffällige Kreuzform. Stattdessen entstand ein einfaches Langhaus mit Ostapsis. Der Grabbau im Westen wurde nun durch einen drei Absiden umfassenden Westbau ersetzt. Damit fügt sich der Bau in die Bipolarität karolingischer Kirchenarchitektur ein; doch trotz eines äußerlich harmonisierten Raumeindrucks bestand durch den massiven Westbau die innere Zweiteilung zwischen Kirchenbau und älterem Memorialbau fort. So hatte man einerseits den Raum für die eucharistischen Handlungen vergrößert, zugleich aber den Zugang zur Krypta im Osten und dem unter dem Westbau liegenden Memorialbau im Westen erhalten. Die Bestattungen bei dieser Kirche bis zu ihrem romanischen Neubau im 12. Jahrhundert lagen vor allem südlich des Langhauses, wobei deren ansteigende Zahl auf die allmähliche Herausbildung der mittelalterlichen Vorstadt auf dieser Seite der Isère hinweisen dürfte.
Der romanische Neubau der Kirche vereinheitlichte mit einem rechteckigen Langhaus und einer Apsis im Osten das Kircheninnere; die Bauphase der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts führte auch zur Errichtung eines Kreuzgangs im Süden der Kirche, und dieses Areal blieb zugleich der frequentierteste Bestattungsplatz des Areals. Überraschend ist dabei die Umorientierung der hier gelegenen Gräber in Süd-Nord-Richtung in den Bestattungsphasen am Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter, um danach zur vorher bereits einheitlichen Ostung der Toten zurückzukehren. Unter den hochmittelalterlichen Grabbeigaben sind drei Muschelschalen zu nennen, die die Träger als Jakobspilger ausweisen dürften, und auch aus den neuzeitlichen Gräbern lassen sich zahlreiche Grabbeigaben (etwa Rosenkränze) belegen. Der Kirchenbau selbst erfuhr bis zur Säkularisierung nur mehr in der Ausstattung größere Neuerungen, was den Kreis zu den bereits angesprochenen Restaurierungen des 19. Jahrhunderts schließt.
Der Band ist großartig bebildert; dabei stört es auch wenig, wenn manche Abbildungen - etwa jene des Grabdenkmals der Flureia aus dem 5./6. Jahrhundert (34 und 174-175) - wiederholt werden. Wer mittels einiger dieser Bilder einen Vorgeschmack auf den Band bekommen möchte, der kann auf der umfangreichen Homepage des bei der Kirche Saint-Laurent eingerichteten archäologischen Museums ( http://www.musee-archeologique-grenoble.fr/) gleich einen Eindruck von dem hier besprochenen Fundmaterial, den Bauuntersuchungen und Grabanlagen gewinnen. Die dem Band beigelegte Begleit-CD, die das üppige Bildmaterial noch ein wenig erweitert und weitere Dokumente wie etwa die Bibliographie oder ausführlichere Quellennachweise bietet, ließ sich zumindest im Rezensionsexemplar nur mit dem Mac öffnen.
In dieser äußerst detaillierten Einzelstudie werden vor allem die Baugeschichte, Bauplastik, Form der Bestattung, der Särge, der Grabbeigaben (wobei leider der genaue Fundort der Münzen im Grab nicht besprochen wird) und die Ausrichtung der Toten analysiert. Damit bietet der Band ein großartig aufgearbeitetes Beispiel für die Möglichkeiten archäologischer Forschung und ihren Aussagemöglichkeiten eben letztlich nicht nur für den untersuchten Einzelfall, sondern als Referenzgröße für weitergehende Fragestellungen der historischen Wissenschaften insgesamt. Insbesondere der ungewöhnliche erste Kirchenbau des 6. Jahrhunderts wird auf überregionales Interesse stoßen.
Romedio Schmitz-Esser