Thomas N. Bisson: The Crisis of the Twelfth Century. Power, Lordship, and the Origins of European Government, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2009, XI + 677 S., ISBN 978-0-691-13708-7, GBP 27,95
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Viele Wege führen durch das Europa des 12. Jahrhunderts. Thomas N. Bisson beschreitet den Pfad der "Krise des 12. Jahrhunderts". Damit nimmt er seine Leser bereits bei der Titelwahl des Buches mit auf unbekanntes Terrain. Denn ohne Zweifel ist dies ein außergewöhnliches Etikett für eine Epoche, die traditionell mit Aufbruch, Neuerung oder gar dem "Weg in die Moderne" in Verbindung gebracht wird. [1]
Das primäre Interesse gilt dem Wandel der politischen Machtstrukturen in Europa. Thomas N. Bisson geht den Veränderungen einer Zeit nach, in der die mittelalterliche Herrschaftspraxis nicht nur ihre prägende Form erhalten hat, sondern in der gleichzeitig die althergebrachten Legitimationsgrundlagen und Strukturen an ihre Grenzen stießen. Das 12. Jahrhundert ist in diesem Zusammenhang nicht als chronologische Zäsur zu begreifen, sondern als eine Metapher politischer, sozialer und geistesgeschichtlicher Veränderungen zu verstehen. Sinnvollerweise spricht Bisson vom "langen 12. Jahrhundert" und steckt den Rahmen von etwa 1060 bis 1230.
Eine Krise der traditionellen Herrschaft sieht Bisson seit der Mitte des 11. Jahrhunderts über Europa heraufziehen. So hätten sich zwischen 1050 und 1150 zwar die wichtigen Machtzentren auf dem Kontinent etabliert, deren Genese Bisson in einer geographischen Gesamtschau präsentiert. Gleichzeitig hätten jedoch vielfältige Veränderungen zur Destabilisierung der "alten Ordnung" geführt. Er liefert ein beeindruckendes Panorama der politischen Landschaft Europas. Scheinbar mühelos steckt er die Landkarte ab: von Polen bis Portugal, von Schottland bis Sizilien reicht sein Fokus. Dabei erweist er sich als profunder Kenner vor allem der westeuropäischen Entwicklungen. Eine besondere Schärfe entwickelt die Analyse für die Gebiete, mit deren Entwicklung sich der Emeritus an der Harvard-University seit langer Zeit beschäftigt: Frankreich und Katalonien.
Der Wandel der "alten Ordnung" betraf zunächst die Legitimation politischer Herrschaft Macht. Sie verlor seit der Mitte des 11. Jahrhunderts an Integrationskraft, weil das Reformpapsttum neue Modelle der rechten Ordnung der Welt entwickelte. Die daraus hervorgegangenen Verschiebungen veränderten nicht nur langfristig die Interaktion weltlicher und geistlicher Gewalt. Ebenso mündete die intellektuelle und argumentative Bewältigung der Konflikte in neuen Herrschaftsdiskursen.
Krisenhafte Veränderungen konstatiert Bisson auch im Bereich der Herrschaftspraxis. Personelle Bindungen, deren Strukturen fehlende institutionelle Organisationsformen erfolgreich kompensierten, veränderten sich. Die alten Eliten fühlten sich zunehmend bedrängt, weil neue nachrückten. Dass die Herrschaft des Salierkönigs Heinrich IV. zunehmend kritisiert wurde, weil er sich der Unterstützung der Ministerialen bediente, mag hier als Beispiel genügen. Diese Verschiebungen brachten langfristig die traditionellen Formen politischer Interaktion ins Wanken. Als "Troubled Societies" beschreibt Bisson treffend jene Herrschaftsverbände zwischen Sachsen, Flandern und England, denen diese Veränderungen zwischen 1060 und 1150 Kriege und Konflikte bescherten.
Die gesellschaftliche Dynamik führte dazu, dass der Adel seine Herrschaft ausbaute und intensivierte, dass er seine Ressourcen nötigenfalls mit Waffengewalt akkumulierte und verteidigte. Auf diese Weise avancierte physische Gewalt zum gängigen Herrschaftsmittel, Adelsmacht etablierte sich zunehmend durch Zwang und Bedrückung. Damit zusammenhängend betont Bisson die Tatsache, dass auch politische Konflikte zumeist gewaltsam gelöst wurden. Wohl nicht zufällig beginnt das Buch mit der Abbildung einer Wandmalerei, deren Inhalt gleichsam als Signet für das gewaltbereite 12. Jahrhundert zu begreifen ist. Sie zeigt die Ermordung Thomas Beckets im Jahr 1170, in der sich die hochmittelalterliche Gewaltpraxis wie in einem Brennglas bündelt. Für Bisson symbolisiert der Mord am streitbaren Erzbischof von Canterbury keine politische Krise, er war vielmehr ein Kennzeichen der spezifischen Formen des Konfliktaustrags.
Auf diesem krisenhaften Fundament von Macht und Herrschaft entwickelten sich seit der Mitte des 12. Jahrhunderts Regierungsformen, die zunehmend auf institutionellen Verfahrenstechniken und administrativen Strukturen basierten. Die analytischen Kategorien Max Webers, der Herrschaft traditionellen Zuschnitts von der bürokratischen unterscheidet, liegen diesen Ausführungen zwar zugrunde. Doch sie bestimmen eher implizit die Argumentation, ohne sie zu überfrachten. Bisson widmet sich der Intensivierung und Zentralisierung der Verwaltung auf unterschiedlichen Ebenen. Er betont den Literalisierungsprozess des 12. Jahrhunderts und den daraus resultierenden Anstieg der Verwaltungstätigkeit. Die Bedeutung der Rezeption gelehrten Rechts unterstreicht er ebenso wie die praktische Funktion des Rechts für Regierung und Administration. Detailliert schildert er die fiskalische Durchdringung des Landes und neue Methoden ihrer technischen Erfassung.
Ebenso nimmt Bisson die Entwicklung der Verfahren in den Blick, die Lösungen politischer Konflikte ohne die Anwendung physischer Gewalt ermöglichten. Spätestens seit 1200 entwickelten sich in ganz Europa institutionalisierte Foren und Formen der politischen Beratung und Beschlussfassung. Sie fixierten nicht nur das Mitsprache- und Entscheidungsrecht der Funktionseliten, sondern sie schufen langfristig die notwendige Verfahrenssicherheit für politische Entscheidungen. Kaum überraschend ist daher die Tatsache, dass die Magna Charta von 1215 den Schlusspunkt der Analyse bildet.
All dies sind zwar bekannte Phänomene der Herrschaftsverdichtung des 12. und frühen 13. Jahrhunderts. Doch Bisson gelingt es, ein breites Panorama von Gleichzeitigkeit und Differenz der europäischen Entwicklung zu entfalten. Sein hautsächliches Interesse gilt jenen Gebieten West- und Südwesteuropas, in denen diese Prozesse besonders dynamisch verliefen. Dass er angesichts der Materialfülle und geographischen Reichweite an anderen Stellen an der Oberfläche bleibt, ist zwar zu verschmerzen. Dennoch wäre es wünschenswert gewesen, wenn er die dezentralen Strukturen der Herrschaftsverbände im römisch-deutschen Reich oder auch in den slawischen Gebieten intensiver in die Darstellung einbezogen hätte.
Das "lange 12. Jahrhundert" stellte ohne Zweifel eine Zeit tiefgreifender Wandlungsprozesse dar. Unstrittig ist ebenso, dass derartige Veränderungen alte Ordnungsmodelle aufbrechen, Konflikte auslösen und auf ganz unterschiedlichen Ebenen neue Impulse setzen. Ob allerdings Wandel zwangsläufig mit Krise gleichgesetzt werden muss, mag dahin gestellt sein. Bei denjenigen, die vermeintliche Krisen - etwa die des Spätmittelalters - dekonstruieren, rufen solche Analogien sicherlich Unbehagen hervor. Auch bleibt Bisson seinen Lesern eine Definition des Krisenbegriffs schuldig, die eine fundierte Diskussionsgrundlage bilden könnte. Doch liegt der Gewinn der Ausführungen nicht in der pointierten Wortwahl oder seiner zugespitzt formulierten These. Bissons Analysen und Vergleiche im europäischen Kontext sind in dieser Dichte ein Gewinn, der kaum hoch genug einzuschätzen ist. Wer sich künftig mit Macht und Herrschaft im "langen 12. Jahrhundert" beschäftigen wird, für den wird sich diese Studie schnell als Standardwerk erweisen.
Anmerkung:
[1] Egon Boshof: Europa im 12. Jahrhundert. Auf dem Weg in die Moderne, Stuttgart 2007.
Claudia Garnier