Stephan Lehnstaedt: Okkupation im Osten. Besatzeralltag in Warschau und Minsk 1939-1944 (= Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 82), München: Oldenbourg 2010, 381 S., ISBN 978-3-486-59592-5, EUR 54,80
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"Was sind die Bedingungen, die so viele Deutsche aktiv an der Besatzung und der mit ihr verbundenen Gewalt teilnehmen ließen?" Diese Frage bildet das erkenntnisleitende Interesse der vorliegenden Studie, die als Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München entstanden ist. Stephan Lehnstaedt, der mittlerweile Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Warschau ist, behandelt darin zwei Städte, die im September 1939 beziehungsweise Ende Juni 1941 von der Wehrmacht erobert wurden und danach mehrere Jahre unter ziviler Okkupationsverwaltung standen: Warschau und Minsk. Sowohl die polnische wie auch die weißrussische Hauptstadt waren Schauplätze massenhafter Gewalt. Warschau verlor im Verlauf der deutschen Besatzung über 600.000 seiner 1,3 Millionen Einwohner, in Minsk starben unter NS-Herrschaft mehr als die Hälfte der ursprünglich 240.000 Bewohner. "Der Völkermord im Osten", so jedenfalls sieht es der Autor, "war eine 'arbeitsteilige Kollektivtat', an der nicht nur diejenigen teilnahmen, die die Morde direkt anordneten oder sogar selbst ausführten, sondern auch die, die sie vorbereiteten, den organisatorischen Rahmen schufen, zur Aufrechterhaltung der Herrschaft beitrugen oder - wie etwa die Ehefrauen - die soziale und emotionale Stabilität der Täter gewährleisteten" (17).
Lehnstaedt sucht die Genese des Massenmordes gewissermaßen im Vorfeld der Taten selbst. Es geht ihm weder um die situative Gewalteskalation gegen Juden, Polen und andere Gruppen noch um eine detaillierte Analyse individueller Täterschaft. Vielmehr nimmt er die alltäglichen Lebens- und Arbeitsverhältnisse der NS-Besatzer in den Blick, in denen er eine notwendige Voraussetzung für deren Gewaltausübung erblickt. Methodisch fühlt sich der Autor der Alltagsgeschichte verpflichtet, die er mit dem Habitus-Begriff Pierre Bourdieus anreichert. Drei Viertel seiner Studie behandeln Warschau, für das sich die Quellenlage ungleich besser darstellt als für Minsk. Lehnstaedt hat alle relevanten polnischen Archive besucht und die polnische Sekundärliteratur systematisch in seine Analyse eingearbeitet. Hingegen rekonstruiert er den Besatzeralltag in Minsk fast ausschließlich aus zeitgenössischen deutschen Quellen und Nachkriegsermittlungen gegen die NS-Täter. Eine weitere Quellengruppe bilden deutschsprachige Zeitungen als wichtige Informationsorgane der Besatzer. Zudem greift der Autor auf Tagebücher, Feldpostbriefe und Memoiren zurück, um subjektive Wahrnehmungen und Befindlichkeiten der Deutschen zu illustrieren.
Im ersten Kapitel nimmt Lehnstaedt das Personal der NS-Besatzungsverwaltungen in Warschau und Minsk in seinen Blick, wobei er nach Angehörigen von Wehrmacht beziehungsweise SS und Polizei, Beamten und Angestellten der Zivilverwaltungen, Zivilisten und "Volksdeutschen" differenziert. In Warschau lebten im Juli 1942 insgesamt 30.000 "Reichs-" und "Volksdeutsche", in Minsk höchstens 10.000. In der polnischen Hauptstadt hielten sich zudem etwa 40.000 Wehrmachtangehörige auf, in der weißrussischen nur 5.000. Für die Zivilverwaltung des Distrikts Warschau (dessen Territorium nicht mit der Stadt identisch war) arbeiteten zu Jahresbeginn 1943 insgesamt 709, für die Stadthauptmannschaft lediglich 54 Deutsche; in Minsk musste der Stadtkommissar mit weit weniger Mitarbeitern auskommen. In beiden Städten scheint der Großteil der zivilen Verwaltungsangehörigen in der Reichsbahn- und Reichspostverwaltung beschäftigt gewesen zu sein. "Volksdeutsche" waren sowohl Nutznießer als auch Träger der NS-Okkupationspolitik. Zum einen kamen sie in den Genuss zahlreicher sozialer Vergünstigungen und avancierten in Polen und Weißrussland zum integralen Bestandteil einer "Rassenhierarchie". Zum anderen waren sie dort in nachgeordneten Positionen in Zivilverwaltung und Polizei tätig und gingen äußerst brutal gegen Juden, Polen und Weißrussen vor.
Die Kapitel II und III bilden den Kern der vorliegenden Studie. Anhand unterschiedlichster Aspekte zeigt Lehnstaedt, wie reglementiert der Besatzeralltag in Warschau und Minsk war. Dies galt nicht nur für den Dienstbetrieb, sondern auch für die unzähligen Versammlungen, offiziellen Feierlichkeiten und die von der NSDAP abgehaltenen "Schulungen", bei denen die Teilnahme gemeinhin Pflicht war. Auch die Freizeitaktivitäten, also Kinobesuche, Radiohören, Lesen, ja selbst das ungezwungene Beisammensein mit anderen Deutschen auf der eigenen Stube, wurden einer immer intensiveren sozialen Kontrolle unterworfen. Dem Autor geht es sowohl um Normen wie um Verstöße, um erwünschte wie unerwünschte Aktivitäten des Besatzungspersonals, um Konflikte, Aggressionen und unkameradschaftliches Verhalten. An vielen Stellen, beispielsweise bei der Analyse der Wohnsituation, betritt er Neuland. Für das subjektive Befinden bedeutete es einen enormen Unterschied, ob man in einer Gemeinschaftsunterkunft von Wehrmacht und Polizei lebte, eine kleine Wohnung im separaten Deutschen Wohnbezirk besaß oder in einem Anwesen aus "arisiertem" jüdischem Besitz residierte. In Minsk bestand keinerlei räumliche Trennung zwischen Arbeit und Wohnen. Der Alltag der Besatzer drehte sich, wie Lehnstaedt nachweist, um Prozesse der Vergemeinschaftung, und diese waren hochgradig standardisiert. Ziel war es offenbar, eine "Volksgemeinschaft" vor Ort zu etablieren (z. B. 63, 110, 140, 188 u. a.), und zwar unter Einbeziehung aller Praktiken von Inklusion und Exklusion, wie sie auch für das "Altreich" kennzeichnend waren.
In Kapitel IV und V analysiert der Autor das Verhalten der NS-Besatzer gegenüber Polen, Weißrussen und Juden. Er schildert die wechselseitigen Wahrnehmungen dieser Gruppen, sexuelle Beziehungen zwischen Deutschen und Polen, die Ghettoisierung und das Wissen über die Judenvernichtung. Unter Rückgriff auf Bourdieu glaubt Lehnstaedt beim deutschen Personal einen "Besatzungshabitus" erkennen zu können, der "in der Fremdheit des Ostens" entstanden sei und die "entscheidende Grundlage für den Umgang mit den Einheimischen" gebildet habe (252). Nun ist der Habitus bei Bourdieu aber eine inkorporierte Struktur, die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata in langfristiger Perspektive indirekt formt, sich in der kurzen Zeitspanne der Besatzung insofern nur graduell verändert haben kann. Wenn es also einen "Habitus des Herrenmenschen" gab, der für die NS-Besatzungspolitik in Warschau und Minsk konstitutiv wurde, so resultierte er aus Sozialisationsprozessen, die lange vor der Okkupation eingesetzt haben müssen. Ohnehin versäumt es Lehnstaedt, diesen Habitus anhand von Ego-Dokumenten nachzuweisen, sondern deduziert ihn aus normativen Quellen. Die Differenzierung des angeblichen "Besatzungshabitus" nach unterschiedlichen sozialen Gruppen unterbleibt ebenso wie dessen Rückbindung an Bourdieus Feldtheorie, welcher der Autor kaum Beachtung schenkt (197 f.). Ohne eine detaillierte Analyse des sozialen Feldes, in das der Habitus eingebettet ist, kann es allerdings allein aus theorieimmanenten Gründen gar nicht sinnvoll sein, Bourdieus Soziologie zu verwenden.
Generell drängt sich bei der Lektüre der vorliegenden Studie der Eindruck auf, dass Lehnstaedt seinen Stoff theoretisch nicht wirklich durchgearbeitet hat. Des Öfteren nimmt er weitreichende Verallgemeinerungen vor, die empirisch nur unzureichend gedeckt sind. Die zahllosen wichtigen Einzelbefunde drohen oftmals in einer unübersichtlichen Mixtur aus Bourdieus Habitus-Begriff, Alltagsgeschichte, NS-Täterforschung sowie Kollektivbiografik unterzugehen. Hinzu kommen dann noch solche Begriffsungetüme wie "utilitaristischer Usus" (182), "Kollektivkausalität" (314) oder "kollektive kognitive Dissonanzreduktion" (335), die jede Anschaulichkeit im Keime ersticken. Die sprachliche Gestaltung der Monografie ist, vorsichtig gesagt, wenig ansprechend. Oftmals fehlen Anführungszeichen bei zeitgenössischen Begriffen und schleichen sich Formulierungsschwächen ein, bei der manches Mal ganze Passagen unverständlich werden (z. B. 33, 34). In vielen Fällen benutzt der Autor die Quellensprache ohne die gebotene Distanz. Als Kulturgeschichte der NS-Okkupationsverwaltung in Warschau und Minsk ist seine Monografie dennoch von Wert, zeigt sie doch, wie eine Unzahl geschriebener wie ungeschriebener Regeln das Alltagsleben des deutschen Personals in ein immer engeres Korsett zwängte. Eine Erklärung für Gewalteskalation und Massenmord ergibt sich daraus freilich noch nicht. Offenkundig wollte der Autor einfach zu viel. Weniger wäre mehr gewesen.
Armin Nolzen