Rezension über:

Nathaniel D. Wood: Becoming Metropolitan. Urban Selfhood and the Making of Modern Cracow, DeKalb, IL: Northern Illinois University Press 2010, XIV + 272 S., ISBN 978-0-87580-422-4, USD 40,00
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Rezension von:
Hanna Kozińska-Witt
Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Hanna Kozińska-Witt: Rezension von: Nathaniel D. Wood: Becoming Metropolitan. Urban Selfhood and the Making of Modern Cracow, DeKalb, IL: Northern Illinois University Press 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 4 [15.04.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/04/19719.html


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Nathaniel D. Wood: Becoming Metropolitan

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Benedict Anderson hat in seinem Werk "Die Erfindung der Nation" die Bedeutung der Schriftsprachen für die Herausbildung des Nationalbewusstseins herausgearbeitet. Er unterstrich dabei die Rolle der Zeitungslektüre für die Erfindung einer vorgestellten Gesellschaft. Nathaniel D. Wood nutzt das Konzept von Anderson und stellt es gleichzeitig provokant auf den Kopf: Ist er doch mit dessen Hilfe einer Gesellschaftsvorstellung auf der Spur, die man in einer von Traditionen erfüllten, auf die Nationsbildung fixierten Stadt wie Krakau eigentlich nicht vermutet - dem Bewusstsein der Zugehörigkeit zur modernen, europäischen, urbanen Zivilisation. Somit ergänzt Woods innovatives, kulturwissenschaftlich orientiertes Buch die national-kulturelle Matrix dieser Stadt um eine neue europäisch-zivilisatorische Perspektive.

Diese imaginierte urbane Gesellschaft identifiziert Wood als Impulsgeber und Adressat der Artikel in der lokalen Boulevardpresse (vor allem Kuryerek Krakowski, Nowiny dla wszystkich, Ilustracya Polska und Illustrowany Kurier Codzienny), die er für den Zeitraum ungefähr von 1900 bis 1914 analysiert. Besonderes Interesse schenkt er der Problematik der Stadtvergrößerung zwischen 1906 und 1915, als mehrere Vororte Alt-Krakaus eingemeindet wurden, wodurch die Kommune den Weg zur Großstadtwerdung einschlug. Diese Großstadtwerdung markiert eine Zäsur in der Entwicklung der Presse, die nun an die Stelle persönlicher Kontakte und mündlich verbreiteter Gerüchte trat.

Das Krakauer Publikum, das diese Boulevard-Blätter las, war kleinbürgerlich oder Inteligencja-behaftet und hätte sein Lebensmotto in den um 1910 entstandenen Worten von Karl Kraus ausdrücken können: "Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selber". Es handelte sich um einen Personenkreis, der nach seinem eigenen sozialen, aber auch nach einem zivilisatorischen Aufstieg seiner Stadt strebte. Diese Leserschaft war vom technischen Fortschritt fasziniert, von dem sie erwartete, dass er ihren Alltag bequemer und abwechslungsreicher gestalten möge. Die Leser liebten Sensationen, Krimis, moralische Fehltritte und Verbrechen, die sie mit voyeuristischem Vergnügen in sicherer Entfernung vom eigenen Sessel aus verfolgten. Sie waren eingefleischte Städter (urbanites), die von den Vorzügen des urbanen Lebens überzeugt waren und dieses nach Möglichkeit noch komfortabler gestalten wollten.

Durch den Fokus der Urbanität kann Wood die Kommune Krakau in ein Kommunikations- und Verkehrsnetz mit anderen europäischen Städten einordnen, wo die gleichen Visionen, aber auch die gleichen Probleme herrschten. Dazu benutzt er die inzwischen üppige urban- und cultural history-Literatur, die er vorbildlich diskutiert und deren Thesen er in den Textfluss integriert. Das Buch ist mit seinem eleganten und sorgfältig abwägenden Schreibstil sehr gut lesbar. Es werden sowohl soziale und ethische als auch gender und generationelle Aspekte berücksichtigt. Die ethnischen Aspekte dagegen (wie erfrischend!) werden nur grob nachgezeichnet, da diese, nach Meinung des Verfassers, nur eine untergeordnete Rolle im urbanen Bewusstsein gespielt haben.

Der Fokus liegt demnach nicht auf Alt-Krakau, sondern auf Groß-Krakau. Vernachlässigt werden deswegen die inter-urbanen Konkurrenzen, Aushandlungsprozesse und Kompromisse zwischen dem Zentrum und der Peripherie, die nur beim Prozess der Eingemeindungen behandelt werden. Das moderne Krakau von Wood hat deswegen zwar eine europäische Dimension, wird aber gleichzeitig von der "Nation" abgekoppelt. Diese Beziehung bräuchte nicht intensiv thematisiert zu werden, existiert dazu doch genügend Literatur, aber es sollte wenigstens darauf hingewiesen werden. So wird zum Beispiel nirgendwo Bezug auf den Befund von Wojciech Bałus genommen, demzufolge es eine besondere Vorstellung von der Krakauer Modernität gegeben habe, gemäß derer Alt-Krakau "alt" bleiben und Neu-Krakau modern werden sollte. [1] Erst beide Krakaus zusammen machten eigentlich das moderne Metropolitan Cracow aus, da das "Altbleiben" des Krakauer Zentrums durchaus in einer sehr modernen und innovativen Art und Weise imaginiert und immer wieder neu konzeptioniert wurde. So überträgt Wood auf das Ganze, was eigentlich nur ein Teil vom Topos der Krakauer Metropole gewesen ist. Diese Lücke weist auf ein weiteres Manko des Buches hin - eine fast komplette Nichtberücksichtigung der deutschsprachigen Literatur. Da Wood überzeugend vorführt, wie sich die Krakauer Presse den Themen und den Bildern der europäischen Presselandschaft bediente, beweist diese Unterlassung, dass die damaligen urbanen Krakauer den Mitgliedern der heutigen universal scientific community einiges voraus gehabt haben müssen.


Anmerkung:

[1] Wojciech Bałus: Krakau zwischen Traditionen und Wegen in die Moderne. Zur Geschichte der Architektur und der öffentlichen Grünanlagen im 19. Jahrhundert (= Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteluropa; 18), Stuttgart 2003.

Hanna Kozińska-Witt