Jan Schönfelder / Rainer Erices: Willy Brandt in Erfurt. Das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen 1970, Berlin: Ch. Links Verlag 2010, 332 S., ISBN 978-3-86153-568-3, EUR 19,90
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Der Bonner Alleinvertretungsanspruch schloss in den 1950er und 1960er Jahren offizielle Spitzenkontakte zwischen beiden deutschen Staaten aus. Das änderte sich 1969 mit dem Regierungsantritt Willy Brandts, der in den Beziehungen zur DDR ein neues Kapitel aufschlagen wollte. Am 28. Oktober 1969 bot er der ostdeutschen Regierung Verhandlungen an, die "zu vertraglich vereinbarter Zusammenarbeit" führen sollten. Gleichzeitig unterstrich er die Besonderheit der innerdeutschen Kontakte. Eine völkerrechtliche Anerkennung des anderen deutschen Staates kam für ihn jedoch nicht in Betracht. Dagegen tat sich die SED-Führung mit dem neuen Gesprächspartner in der bundesdeutschen Hauptstadt schwer, da durch den Regierungswechsel das gewohnte und fast schon lieb gewordene Feindbild verloren gegangen war.
Darüber hinaus hatten sich die internationalen Rahmenbedingungen verschoben, denn Moskau verfolgte schon seit längerem einen Entspannungskurs gegenüber Washington. Ulbrichts Deutschlandpolitik, die wieder auf Abgrenzung abzielte, schien unzeitgemäß geworden zu sein. Wie konnte es vor diesem Hintergrund zum deutsch-deutschen Spitzentreffen 1970 in Erfurt kommen? Wie verliefen Vorbereitung und Durchführung dieser Begegnung - übrigens der ersten auf hoher politischer Ebene seit der Münchener Ministerpräsidentenkonferenz von 1947? Welche Erwartungen knüpften beide Seiten an das Treffen? Diesen Fragen gehen die beiden Journalisten Jens Schönfelder und Rainer Erices in ihrer gut lesbaren Untersuchung nach. Sie haben dazu nicht nur die Forschungsliteratur ausgewertet, sondern auch eigene Archivrecherchen betrieben, und zwar beim Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen (BStU), im Bundesarchiv sowie im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes.
Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Während zunächst der Weg nach Erfurt ausführlich beschrieben wird, erfährt der Leser anschließend etwas über die Durchführung und Nachbereitung der Reise. In Moskau lag der Schlüssel auch für die Festlegung von Ort und Zeitpunkt des Treffens. Der Kreml war an einem zügigen und erfolgreichen Abschluss der eigenen Gespräche mit der Bundesrepublik interessiert, die bekanntlich zur Unterzeichnung des Moskauer Vertrages am 12. August führten. Daher waren Störmanöver von Seiten der SED unerwünscht. Moskau bewog die ostdeutschen Genossen dazu, den kompromisslosen Kurs aufzugeben und konziliante Töne anzuschlagen. Als schwieriges Hindernis erwies sich nämlich die Forderung der SED-Führung, das deutsch-deutsche Spitzentreffen in Ost-Berlin stattfinden zu lassen. Daraufhin wollte die Bundesregierung Brandt über West-Berlin einreisen lassen, was wiederum beim DDR-Ministerrat auf Ablehnung stieß.
Der Viermächtestatus der geteilten Stadt erwies sich rasch als protokollarisches Minenfeld; die vorbereitenden Gespräche befanden sich in einer Sackgasse. In diese festgefahrene Situation brachte die Sowjetunion Bewegung, indem sie die SED zum Einlenken veranlasste. Mit Rückendeckung von Außenminister Andrej A. Gromyko schlug der sowjetische Botschafter in der DDR, Pjotr A. Abrassimow, dem ostdeutschen Außenminister Otto Winzer in einem Telefonat am 11. März 1970 die Städte Magdeburg oder Erfurt als Gesprächsort vor. Beide Autoren weisen zu Recht darauf hin, dass die SED-Führung über den Vorstoß aus Moskau sichtlich irritiert war. Ost-Berlin bemühte sich allerdings darum, dieser versteckten Weisung umgehend Folge zu leisten. Bereits einen Tag später unterbreitete der Leiter der DDR-Delegation offiziell den Vorschlag, das Treffen in Erfurt durchzuführen.
Die Zusammenkunft der beiden Regierungschefs in Erfurt am 19. März 1970 konnte den hoch gesteckten Erwartungen letztlich nicht gerecht werden. Das lag vor allem an den politisch Verantwortlichen in der DDR. Für die SED-Führung spielten Fragen des Besuchsprotokolls eine zentrale Rolle, da Ost-Berlin auf diesem Wege die völkerrechtliche Anerkennung der DDR anstrebte. In inhaltlichen Fragen vermied die ostdeutsche Delegation um Ministerpräsident Willi Stoph allerdings jede Festlegung. Nicht zu übersehen war außerdem die angespannte Atmosphäre zwischen beiden Politikern. Das hing nicht so sehr mit der Tatsache zusammen, dass es sich um das erste Treffen seit langem handelte. Von entscheidender Bedeutung waren vielmehr die Reaktionen der Bevölkerung in Erfurt, die auf Brandt und Stoph in entgegengesetzter Weise einen tiefen Eindruck machten. Die Autoren schildern, dass die SED im Vorfeld des Treffens versuchte, Vorkehrungen zu treffen, um lautstarke Zustimmungs- oder Unmutsbekundungen zu unterbinden. Ost-Berlin wollte stets Herr des Geschehens sein. Deshalb wurden in der Erfurter Innenstadt Straßenabsperrungen errichtet, die den direkten Zugang der Bevölkerung zum westdeutschen Regierungschef verhindern sollten. Doch bereits kurz nach Brandts Ankunft überwanden ca. 1.000 Menschen die Absperrung und stürmten den Platz vor dem Tagungshotel. Die Strategie der SED war gescheitert. Wenn es denn ein Bild gibt, das die Bedeutung des Treffens visualisierte, so ist es die von Fotografen abgelichtete Szene, in der Brandt mit beschwichtigender Geste an das Fenster seines Hotelzimmers trat und sich den versammelten Landsleuten zeigte. Die spontan skandierten "Willy, Willy"-Rufe galten bekanntlich ihm und nicht seinem ostdeutschen Amtskollegen. Über das Fernsehen verbreitete sich das Foto schnell in Ost und West und wurde Teil der kollektiven Erinnerung, sehr zum Ärger der SED-Führung. Erst später gelang es den Einheitssozialisten, linientreue Parteimitglieder und Betriebsgruppen für eine Gegendemonstration zu mobilisieren. Für die SED stellte das Spitzentreffen eine Katastrophe dar, denn die geschilderte Szene vor dem Tagungshotel in Erfurt schien in gewisser Weise die Sehnsucht der Menschen in der DDR nach der Einheit der Nation zu symbolisieren.
In der Forschung herrscht Konsens darüber, dass die Gespräche aufgrund der unterschiedlichen Ausgangspositionen ergebnislos blieben. Die Bedeutung des Erfurter Treffens wurde also schon frühzeitig stark relativiert. Diesem Gesamturteil schließen sich Schönfelder und Erices weitgehend an und betonen abschließend, dass der Weltöffentlichkeit "die politischen Differenzen zwischen den deutschen Staaten in aller Deutlichkeit vor Augen geführt" wurden (275). Dennoch habe mit dieser Zusammenkunft "das Tauwetter in den deutsch-deutschen Beziehungen" begonnen. Am Ende ihres Buches versuchen die beiden Autoren, die ambivalente Bedeutung des Spitzentreffens mit dem Hinweis zu erklären, dass es das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen verdeutlicht habe "und die Hoffnung auf ein wirkliches Miteinander auch in schweren Zeiten aufrechterhielt" (279). Nur in dieser Hinsicht wollen sie das Erfurter Treffen - etwas pathetisch - als "Markstein auf dem Weg zur deutschen Einheit" verstanden wissen.
Dierk Hoffmann