A. J. Woodman (ed.): The Cambridge Companion to Tacitus, Cambridge: Cambridge University Press 2009, XVI + 366 S., ISBN 978-0-521-69748-4, GBP 18,99
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Es mag nur ein Zufall sein - doch er ist bezeichnend: Dass der neue Cambridge Companion to Tacitus ausgerechnet mit einem Beitrag schließt, der den tiefen Einfluss erörtert, den der antike Historiograph auf Ronald Symes Art und Weise ausgeübt hat, über römische Geschichte nachzudenken und sie literarisch niederzulegen, dürfte eher ungewollt die Aufmerksamkeit auf den sonderbaren Umstand lenken, dass seit Symes großartigem Tacitus-Buch (1958) keine umfassend angelegte, erschöpfende und wirklich befriedigende Monographie zu dem bedeutenden römischen Historiographen mehr erschienen ist. Der Companion kann diese Lücke nicht schließen - er ist auch gar nicht darauf angelegt. Aber er leistet wichtige Vorarbeiten für ein solches Unternehmen.
"The aim of the book ist to provide a practical demonstration of current work on Tacitus as written by experts" (XV) - so definiert der Herausgeber im Vorwort das Ziel der Aufsatzsammlung, und fügt in der Einleitung hinzu, man werde bald bedauern, dass es nur noch wenige Experten gebe, die in der Lage seien, Tacitus im lateinischen Original zu genießen; diesen Prozess zumindest zu verzögern, indem zur Tacitus-Lektüre angeregt werde, diene das Buch (14). Ob der Sammelband diesem Anliegen letztlich gerecht wird, sei dahingestellt. Zu heterogen erscheint dem Rezensenten letztlich das Niveau, auf dem die Beiträge argumentieren - konzise Zusammenfassungen des Forschungsstandes zu einzelnen Problemen und gelungene Einführungen in spezifische Sachverhalte stehen neben hoch spezialisierter Spezialforschung, die einen Anfänger sicherlich überfordern wird und die Tacitus-Experten nicht unbedingt in einem Companion vermuten dürften.
Der Band ist anschaulich in vier Hauptteile gegliedert: "Contexts" (17-43), "Texts" (47-143), "Topics" (147-238) und "Transmission" (241-329). Die angedeutete Diskrepanz zeigt sich insbesondere anhand eines Vergleichs der Abschnitte "Texts" und "Transmission": Im erstgenannten Teil bieten A.R. Birley ("The Agricola") und Richard F. Thomas ("The Germania as literary text") gelungene Beispiele für eine differenzierte Spezialforschung, die allerdings ungemein voraussetzungsreich ist. Birley beschäftigt sich nach einer kurzen Diskussion der Problematik einer gattungsspezifischen Einordnung des Agricola mit der Hauptfigur in diesem Werk; er zeigt, wie Tacitus die Leistungen der Vorgänger seines Schwiegervaters Agricola gezielt herunterspielt hat (Agricola habe z.B. in Regionen operiert, die bereits von seinen Vorgängern erschlossen worden seien), wie die Schrift aber dennoch als wichtige historische Quelle genutzt werden könne. Insgesamt blieben die Motive, die den Autor - abgesehen von der Ehrung seines Schwiegervaters - zur Abfassung des Agricola veranlasst hätten, aber im Dunkeln. Thomas geht der Frage nach, was die Germania eigentlich darstellt, und erörtert dabei auf hohem Niveau zentrale Probleme der aktuellen Germania-Forschung ('Glaubwürdigkeit' des Textes als Quelle, Verhältnis von ethnographischen und historischen Passagen, Funktion der libertas). Sein Fazit betont dementsprechend die Offenheit des Textes: "The Germania remains an opaque work, holding different purposes for different readers: to some it delights, to others it instructs, others find a prelude to invasion, while yet others see it as extolling primitivism and holding up the German as a model of what Rome has ceased to be, the Empire headed towards its inevitable demise" (70f.). Die Rätselhaftigkeit, ja geradezu programmatische Offenheit taciteischer Texte hebt auch Sander M. Goldberg mit Blick auf den Dialogus de oratoribus hervor (74, 84), doch scheine dort eine Problematik durch, die auch Tacitus persönlich berührt haben müsse: Wie konnte man sich als hochrangiger Amtsträger unter einer offenkundigen Gewaltherrschaft - in Tacitus' Fall derjenigen Domitians - verhalten (80f.)? Goldbergs spannende Annäherung an den Dialogus beinhaltet insofern ein Plädoyer für eine autobiographische Interpretation dieser Schrift.
Erstaunlicherweise ist den Historien im Abschnitt "Texts" nur ein Beitrag gewidmet: Rhiannon Ash hebt die Bedeutung hervor, die der Bürgerkrieg des Jahres 69 in diesem Werk - auch in den verlorenen Partien - gespielt haben muss, und deutet das Geschichtswerk aus dieser Perspektive als Klage über "widespread disintegration and collapse of Roman identity" in dieser Phase der römischen Geschichte (95). Möglicherweise hätten die Historien nach der geradezu qualvoll zerdehnten Behandlung der Bürgerkriege in B. 1-3 auf eine "(physical and moral) reconstruction" unter Vespasian hingezielt (98), in jedem Fall aber sei zu konstatieren, dass "[...] the painfully leisurely pace and detailed narrative offered by Histories 1-3 relentlessly unmasks and commemorates for posterity the collective shame of these civil wars" (95). In drei Beiträgen werden die Annalen erschlossen: Christina Shuttleworth Kraus konstatiert, dass Tiberius von Tacitus permanent in Vergleiche gepresst wurde, in denen er nicht bestehen konnte (Augustus, Germanicus), und arbeitet damit ein wichtiges Moment taciteischer Darstellungstechnik heraus; S. J. V. Malloch zeigt anhand eines Vergleichs der inschriftlich erhaltenen Gallier-Rede des Claudius mit ihrer Wiedergabe in den Annalen, wie Vergangenheit bei Tacitus zum Argument wird und dem Autor hilft, Geschichte zu kommentieren (124-126); E. E. Keitel interpretiert die zahlreichen, geradezu ermüdenden Sterbeszenen, die Tacitus unter Neros Herrschaft beschreibt, als Ausdruck einer den Annalen zugrunde liegenden These, wonach Nero eine noch größere Katastrophe für Rom gewesen sei als seine Vorgänger, aber durchaus auch unter schlechten Kaisern integere Menschen anzutreffen seien.
Ganz anders - wie angedeutet - die Beiträge des Abschnitts "Transmission", die im Wesentlichen einführenden oder zusammenfassenden Charakter aufweisen - so etwa der konzise Überblick über die Tacitus-Überlieferung von der Kaiserzeit bis zum Jahr 1607 von R. H. Martin, der u.a. in Erinnerung ruft, dass Historien und Annalen in der Antike als Sammlung von Kaiserviten verstanden wurden (Hieronymus, 241), und der angesichts der z.T. verschlungenen Überlieferung generell vor allzu großem Optimismus warnt, auf die ipsissima verba des Autors zurückgreifen zu können (242). Alexandra Gajda führt ein in die umfangreiche Tacitus-Rezeption zwischen ca. 1530 und 1640 und weist auf die Bedeutung seiner Werke, die als "the richest treasury of arcana imperii" galten (262), in der Diskussion um 'Staatsraison' hin; Paul Cartledge beschreibt den "Tacitism" Edward Gibbons - seine Bewunderung, ja teilweise Selbstidentifikation mit dem römischen Historiographen, die Gibbon aber trotzdem nicht zum Verlust seiner Eigenständigkeit als Historiker verführt habe; C. B. Krebs spannt mit Blick auf die Germania-Rezeption den Bogen vom italienischen und deutschen Humanismus bis in die NS-Zeit; Martha Malamud zeigt auf, wie tief Robert Graves, Naomi Mitchison und Lion Feuchtwanger von Tacitus beeinflusst wurden - sie alle zwischen den Weltkriegen unter politisch-sozialen Rahmenbedingungen wirkend, die den Vergleich zur iulisch-claudischen Zeit geradezu herausgefordert hätten; Mark Toher schließlich arbeitet in seinem bereits erwähnten Beitrag über Syme und Tacitus u.a. heraus, welche Anregungen die prosopographische Methode des großen neuseeländischen Historikers und Tacitus-Forschers insbesondere aus Tacitus' Eigenheit, Geschichte "in personal terms" (321) zu denken (was im Rahmen der antiken Historiographie freilich kein spezifisches Proprium des Tacitus darstellte), bezog.
In den beiden anderen Hauptabschnitten wird der Person des Autors ("Contexts") und wichtigen Grundfragen zu seinem Werk ("Topics") nachgegangen. Im erstgenannten Abschnitt beantwortet A. M. Gowing die Frage, welche Texte in Tacitus' Bücherregal gestanden haben könnten - Cato, Sallust, Livius und auch spätere Historiographen des 1. Jahrhundert, die Tacitus aber kein besonderes Vergnügen bereitet haben dürften (29). Sehr gelungen ist A. J. Woodmans Versuch, Tacitus in "the contemporary scene" zu vernetzen. Im Abschnitt "Topics", dem Beiträge zu "Tacitus' personal voice" (Christopher Pelling), zu seinem komplexen libertas-Begriff (S. P. Oakley), seinem Stil (S. P. Oakley), zu den Reden in den Historien (D. S. Levene) und zur Darstellung von Schlachten und Krieg in den Annalen (D. S. Levene) angehören, ragt Miriam Griffins Beitrag über Tacitus als Historiker heraus.
Die im Companion versammelten Beiträge weisen durchweg eine hohe Qualität auf und bieten einen Spiegel der aktuellen Tacitus-Forschung. Nun wird es Zeit, dass mehr als ein halbes Jahrhundert nach Syme jemand den Mut und die nötige Waghalsigkeit besitzt, sich an das neue Tacitus-Buch für das 21. Jahrhundert zu begeben.
Mischa Meier