Ingo Grabowsky / Peter Kroos / Richard Schmalöer u.a. (Hgg.): Kirchen der Nachkriegszeit. Boomjahre sakraler Baukunst in Dortmund, Münster: Ardey-Verlag 2010, 221 S., ISBN 978-3-87023-338-9, EUR 29,80
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Die Kirchen der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen stehen momentan auf dem Prüfstand: einmal als architekturhistorische Besonderheiten von Weltrang, zum anderen aber auch als leer stehende "Immobilien", die von Abriss bedroht sind und denen Umnutzungen bevorstehen. Die Stadt Dortmund im Herzen des Ruhrgebiets kann als ehemalige Zechen- und Schwermetall-Metropole und den neu entstandenen Arbeitervierteln nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer großen Fülle von neuen Kirchenbauten aus dieser Ära aufwarten. Es ist also durchaus berechtigt, wenn die Herausgeber des Buches, Ingo Grabowsky als Historiker und Publizist und die Architekten Kroos und Schmalöer als Mitglieder des Bundes Deutscher Architekten Dortmund, diese Phase des Kirchenbaus der 1950er- bis 1970er-Jahre als "Boomjahre" bezeichnen.
Das in seinem Format etwas zu querrechteckig geratene Buch ist als Bildband mit der fotoreichen Dokumentation der wiederaufgebauten und neu errichteten Kirchen Dortmunds zwischen 1950 und 1970 ebenso geeignet wie auch als wissenschaftliche Vorstellung und Analyse dieser Thematik. Neben einer chronologischen Taxonomie in die fünf Kategorien "Wiederaufbau der großen Stadtkirchen", "Frühe Neubauten und 1950er Jahre", "Der interpretierende Wiederaufbau", "Die 1960er Jahre" und "Die 1970er Jahre" von Ingo Grabowsky, bei der exemplarisch die Baugeschichten der Kirchen mit ihren Architekten und jeweiligen Grundriss- und Raumkonzepten sowie Konstruktions- und Materialcharakteristika vorgestellt werden, gibt es weitere Fachbeiträge zu Einzelthemen sowie Interviews und Architektenporträts.
Die einleitenden Aufsätze von Richard Schmalöer, Kerstin Wittmann-Englert und Svenja Schrickel beleuchten das Thema "Nachkriegskirchen" aus unterschiedlichen Perspektiven. Der Architekt Schmalöer schildert unter der Überschrift "Kirchgang" seine eigenen Raumerfahrungen als Jugendlicher beim regelmäßigen Gottesdienst in der Kirche und leitet dann zur Relevanz der vorliegenden Publikation über: als eine Präsentation der Nachkriegskirchen in ihrer Rolle als erhaltenswerte architektonische Zeitzeugen in einer Phase des Krisenmanagements und knapper kirchlicher Kassen. Seine Hoffnung ist, dass vielleicht durch die Vorstellung der hohen künstlerischen Qualität dieser Sakralbauten ein größeres Verständnis in der Öffentlichkeit einsetzen kann, wodurch die ein oder andere Kirche langfristig gerettet würde (8). Kerstin Wittmann-Englert gelingt als ausgewiesene Expertin für die Thematik ein kurzer, aber dafür umso prägnanterer Überblick über die Ideen, Konzepte und Notwendigkeiten, die mit dem Nachkriegskirchenbau in Deutschland verbunden waren. Das Schlagwort des "unbehausten Menschen", das in der Nachkriegszeit gängig war und als Sinnbild auch auf die Situation der religiösen Gemeinden übertragen wurde, fand seinen Niederschlag in der Gestaltung der Kirchenbauten: Ihre Baukörper erscheinen in Form von Zelten oder in Anlehnung an Schiffsbauten, häufig ist das Innere als schützende Raumhöhle konzipiert (12/13). Wittmann-Englert verweist darauf, dass es aber bereits Ende der 1960er-Jahre zu einer Entsakralisierung dieser symbolreichen Bauformen kam und mit dem Typus des Gemeindezentrums der profanierte multifunktionale Sakralraum Einzug hielt (14).
Der Umgang der Denkmalpflege mit den Nachkriegskirchen ist Thema der Überlegungen von Svenja Schrickel, die als Leiterin der Unteren Denkmalbehörde in Dortmund unmittelbar mit den aktuellen Entwicklungen konfrontiert ist. Sie verweist auf den Zeitdruck, der auf den Architekturhistorikern und der Denkmalpflege im Angesicht der Modernisierungs- und Sanierungswelle, die auf die Kirchen der 50er- bis 70er-Jahre zurollt, lastet. Notwendig sei eine möglichst schnelle flächendeckende und systematische Erfassung dieser Bauten. Erste Ansätze, auch für die Dortmunder Kirchen, seien mit der "Modellstudie zur Umnutzung von Kirchen" (2007-2009) sowie dem Inventarisationsprojekt "Erkennen und Bewahren. Kirchenbau der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen" (seit 2009) gemacht (23).
Im Dokumentationsteil des Buches wird anhand der hervorragenden Fotos und der gut formulierten Baubeschreibungen deutlich, welche besonderen Kirchbauentwürfe in Dortmund für die Nachkriegszeit und bis in die 1970er-Jahre hinein vorliegen. Exemplarisch für das jeweilige Jahrzehnt seien hier nur genannt die Paul-Gerhardt-Kirche im Schema des Notkirchenprogramms von Otto Bartning von 1950 (57-62), die Kirche Heilige Familie des Architekten Otto Weicken, die als weiße organisch geformte "Großskulptur" in den 60er-Jahren entstand oder die Johanneskirche von Herwarth Schulte von 1971, die einen kubisch-unregelmäßigen Stahlbetonbau mit Betonmaßwerkwänden darstellt. Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang der Wert der jeweiligen Ausstattungsprogramme im Inneren der Kirchen, der häufig zeitgleich und in Absprache mit dem Architekten konzipiert wurde.
Es gilt also diese als Gesamtkunstwerke angelegten Kirchenbauten und -räume Dortmunds aus der Nachkriegszeit wieder zu entdecken und ihre architektonischen Qualitäten herauszustellen. Und es muss auch begreifbar gemacht werden, dass diese sakralen Räume der Moderne einer feinfühligen Pflege bedürfen, um instand gehalten und somit von der nutzenden Gemeinde positiv wahrgenommen werden zu können. Emanuela Freiin von Branca, Diözesanbaumeisterin des Erzbistums Paderborn, erachtet in einem abgedruckten Interview diesen Aspekt als sehr relevant für eine intensive und angemessene Erfahrung des modernen Sakralraums (111).
Die vorliegende Publikation über die Dortmunder Nachkriegskirchen bietet hinreichend Informationen, Anschauungsmaterial und Denkanstöße, um diese bis heute vernachlässigten modernen Sakralbauten endlich in einem neuen Licht zu sehen. Weiterhin ist sie schon jetzt eine wichtige Grundlage für die akut anstehenden Sanierungs- und Umnutzungskonzepte, die auch vor den Türen Dortmunds nicht haltmachen werden.
Stefanie Lieb