Peter Haslinger (Hg.): Schutzvereine in Ostmitteleuropa. Vereinswesen, Sprachenkonflikte und Dynamiken nationaler Mobilisierung 1860-1939, Marburg: Herder-Institut 2009, 274 S., ISBN 978-3-87969-345-0, EUR 39,00
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Nationsbildungs- und Nationalisierungsprozesse in Ostmitteleuropa sind ohne die Beteiligung eines breiten, auf die Förderung der eigenen Nation ausgerichteten Vereinswesens kaum denkbar. Die Selbstmobilisierung der verschiedensprachigen Gemeinschaften abseits der staatlichen Ebenen in sich zunehmend voneinander abgrenzenden und miteinander konkurrierenden Einheiten ist ein grundlegender Bestandteil dieser Prozesse. Mit dem nationalen Vereinswesen in den gemischtsprachigen Gebieten Ostmitteleuropas im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert beschäftigt sich der vorliegende Tagungsband unter dem besonderen Aspekt der Schutzvereine. Der Begriff selbst, der ursprünglich als Selbstdefinition verschiedener, insbesondere deutschnationaler Vereine in der Habsburgermonarchie verwendet wurde, suggeriert zunächst Abwehrmaßnahmen gegenüber einer Bedrohung. Diese Einschätzung, die der überwiegende Teil der hier behandelten Vereine auch für sich selbst reklamierte, trifft jedoch nur in geringem Maße die Charakteristik des Typus Schutzverein.
Ausgehend von der Frage, wen und wovor Schutzvereine denn wohl schützen mögen, stellt der Herausgeber Peter Haslinger einleitend Schutzvereine als Organisationen mit einem breiten Tätigkeitsspektrum im Rahmen der sozialen und Bildungsfürsorge innerhalb eines engen regionalen Raumes dar, die stark von den Aktivitätsmustern des jeweiligen nationalen Gegners geprägt waren. Schutzvereine hatten die Aufgabe, die eigene Bevölkerung im nationalen Sinne zu mobilisieren, das Bewusstsein für die Nation zu fördern und in Konkurrenz mit den Organisationen des nationalen Gegners für die Sicherung des Einflusses der eigenen Gruppe auf Gesellschaft, Staat und nicht zuletzt auch das Territorium zu sorgen. Hierbei ergab sich, wie Pieter M. Judson in seinem Beitrag über "imagined borderlands" in der Habsburgermonarchie ausführt, die paradoxe Situation, dass die Vereine das, was sie zu schützen oder fördern vorgaben - die moderne Nation -, erst durch ihre Tätigkeit schaffen und durchsetzen mussten. Dabei wurde einerseits die Landbevölkerung als Hüter einer ursprünglichen nationalen Identität gerade auch in den Gebieten der so genannten Sprachgrenze gefeiert, andererseits beklagten die meist aus städtischem Milieu stammenden Vereinsaktivisten die nationale Indifferenz der Bauern und bemühten sich, durch separierende Wohlfahrtspflege nationales Bewusstsein zu implementieren. Die soziale Fürsorge vor allem im Bereich der Kinderpflege und des Schulwesens wurde dann auch zu einem wesentlichen Kennzeichen der Schutzvereinsarbeit. Sehr anschaulich belegt Tara Zahra, wie verschiedene Vereine hier einen Bereich ausfüllten, der von den staatlichen Institutionen der Habsburgermonarchie vernachlässigt wurde. Die soziale Arbeit ließ die nationalen Bewegungen florieren, und der Staat griff unter dem Eindruck der sozialen Verwerfungen des Ersten Weltkriegs schließlich gern auf die lokalen Kompetenzen der Schutzvereine zurück, importierte damit aber auch die nationalen Fragestellungen in seine bis dahin auf Neutralität ausgerichtete Politik.
Das Verhältnis der Schutzvereine zur jeweiligen Staatsmacht ist neben der sozialfürsorglichen Arbeit ein weiterer Schwerpunkt dieses Bandes. Durch das breite geografische und zeitliche Spektrum der hier vorgestellten Vereine - von Böhmen bis zum Baltikum, von 1860 bis zum Zweiten Weltkrieg - wird deutlich, dass die völlig anders gelagerten staatlichen Rahmenbedingungen in der Habsburgermonarchie, den preußischen Ostgebieten oder den russischen Ostseeprovinzen prägend für Arbeitsspektrum, Ausrichtung und Wirkung der verschiedenen Schutzvereine waren. Während die Deutschen Vereine in den baltischen Provinzen der gesellschaftlichen Selbstorganisation und sozialen Positionssicherung als Resonanz auf den gesellschaftlichen Wandel seit der Revolution 1905 dienen sollten (Jörg Hackmann), zeichneten sich tschechische und deutsche Schutzvereine in Böhmen (Jitka Balcarová) durch eine gegeneinander gerichtete Aggressivität aus, wobei die Maßnahmen der einen Seite diejenigen der anderen konterkarierten. Beide suchten staatliche Unterstützung für ihre Anliegen, trafen aber sowohl in habsburgischer als auch in tschechoslowakischer Zeit mehrheitlich bei den Behörden auf Distanz (Haslinger). Anders gestaltete sich diese Entwicklung allerdings für den ungarischen Bereich, wie Joachim von Puttkamer anhand eines Vergleichs des Siebenbürgischen und des Oberungarischen Magyarischen Kulturvereins nachweist. Beide Vereine traten in unterschiedlicher Gewichtung für einen aggressiven Sprachennationalismus ein und verstanden sich dabei als legitime Verlängerungen des Staates in die ungarische Gesellschaft hinein. Gänzlich anders lief dies in den preußischen Ostprovinzen, wo der Staat eindeutig Partei für die deutsche Seite ergriffen hatte. Das polnische Vereinswesen (Rudolf Jaworski) konnte sich hier nur auf Selbsthilfe und Abgrenzung von den staatlichen Einschränkungen ausrichten.
Bemerkenswert ist die Modernisierungsleistung, die Schutzvereine, motiviert durch ihren nationalen Anspruch, im Bereich der Volksbildung erbrachten, wie unter anderem Kai Struve für Polen und Ruthenen in Galizien nachweist. Hierzu gehören auch die Veränderungen, die die nationale Schutzarbeit langfristig bei den Geschlechteridentitäten bewirkte, obwohl dies keineswegs intendiert war. Heidrun Zettelbauer zeigt anhand des Vereins Südmark, dass, obgleich Frauen nur eine passive Rolle als Hüterinnen der Nation im privaten und familiären Bereich zugedacht wurde, die Nationalisierung des Familiären gerade auch eine Aktivierung der Frauen im politisch-sozialen Bereich mit sich brachte.
Das Verdienst des vorliegenden Bandes liegt in dem breiten Spektrum der vorgestellten Organisationen und der Untersuchung einer Vielzahl von Einzelaspekten. Im direkten Vergleich werden dabei übergreifende Strukturen erkennbar, die eine weitere definitorische Ausarbeitung des Begriffs "Schutzverein" als speziellen Vereinstypus lohnenswert erscheinen lassen. Abgerundet wird der Band durch den Abdruck einer Auswahl von propagandistischen Postkarten deutscher und tschechischer Schutzvereine (nochmals Jaworski), die in ihrer Gegenüberstellung sehr anschaulich die Parallelität der nationalpolitischen Einstellungen bei verschieden nationalen Vereinen illustrieren.
Sabine Grabowski