Peter Nitschke (Hg.): Kulturwissenschaften der Moderne. Band 1: Das 18. Jahrhundert, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2010, 228 S., ISBN 978-3-631-58644-0, EUR 39,80
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Als mich die Anfrage zur Rezension des ersten Bandes einer auf drei Bände angelegten Reihe über "Kulturwissenschaften der Moderne" erreichte, der sich insbesondere dem 18. Jahrhundert widmet, ging ich davon aus, dass ich vor allem deswegen um eine Besprechung gebeten wurde, weil ich sowohl zur Kulturgeschichte wie auch zur Geschichte der Frühen Neuzeit gearbeitet habe, sich aus beidem also eine gewisse Kompetenz zur Beurteilung eines entsprechenden Bandes ableiten lassen könnte. Ich nehme an, die Redaktion der sehepunkte wurde von einer ähnlichen Überlegung geleitet. Nach der Lektüre des Bandes bin ich mir nicht mehr so sicher, ob diese Einschätzung tatsächlich zutreffend ist. Denn ich habe selten ein Buch in Händen gehalten, das zwar den Begriff "Kulturwissenschaften" prominent im Titel führt, in dessen Text dann aber die Schlagworte "Kultur" oder "Kulturwissenschaft" so selten vorkommen. Und zwar gilt das, mit Ausnahme der Einleitung des Herausgebers, für den gesamten Band. In allen anderen Beiträgen wird man nach einer ausführlicheren Thematisierung kulturwissenschaftlicher oder kulturhistorischer Gegenstände vergeblich suchen.
Nur mittelbar lässt sich daher aus den einzelnen Aufsätzen der vom Herausgeber als zentrale Intention des Bandes formulierte Anspruch herauslesen. Es ist gerade diese Einleitung, die einen sehr erfreulichen und anregenden Auftakt setzt. Peter Nitschke unternimmt es eher essayistisch, aber gerade deswegen in gelungener Weise, die Forschungskontinente "Aufklärung" und "Kultur" zu umreißen, wobei er sich erfreulicherweise von Klischees und Standardargumenten fern hält, um stattdessen zu einer Problematisierung dieser Konzepte einzuladen. Leider wird dieser Ansatz in den weiteren Beiträgen zu selten aufgegriffen, auch wenn Nitschke als Generallinie für den Band ausgibt, der "Verdichtung und Vertretung des Kulturellen am [sic!] 18. Jahrhundert" nachzuspüren und dies "für die heutigen Diagnosebedürfnisse in den Kulturwissenschaften" einzusetzen (15).
Meines Erachtens wäre es mit einem solchen Interesse nötig gewesen, das Konzept von Kulturwissenschaften im 18. Jahrhundert zunächst einmal zu problematisieren. Das findet in den einzelnen Beiträgen jedoch so gut wie nicht statt. Das Bestehen von Kulturwissenschaften wird weitgehend vorausgesetzt, was in mindestens zweifacher Hinsicht problematisch ist: Erstens gab es in diesem Zeitraum, wie kaum großartig bewiesen werden muss, kein ohnehin schon vorhandenes Selbstverständnis von Kulturwissenschaften als einer eigenständigen disziplinären Arena; zweitens müsste für die jeweiligen Bereiche im Einzelnen gezeigt werden, ob und wie sie sich nicht nur als Wissenschaften, sondern zumindest in einer retrospektiven Betrachtung als Kulturwissenschaften konstituierten.
Dass eben dies nicht geleistet wird, mag man im Beitrag von Esther-Beate Körber noch verschmerzen, da es hier vor allem darum geht, Grundtendenzen des 18. Jahrhunderts zu benennen - die sie vor allem in der Trennung von Wissens- und Lebensbereichen festmacht, die zuvor als Einheit gedacht worden seien. Auch wenn Körber für sich in Anspruch nimmt, das 18. Jahrhundert gerade nicht in einem modernisierungstheoretischen Sinn zu lesen, entfernt sich ihr Ergebnis doch kaum von den standardisierten Aufklärungsgeschichten, vor allem weil das 17. Jahrhundert als unterkomplex dargestellte Kontrastfolie herhalten muss, das sich durch das Denken in Einheiten und Zusammenhängen ausgezeichnet habe (was in dieser Form unzutreffend ist), während das 18. Jahrhundert dann zu einer - doch wieder sehr "modernen" - Differenzierungsleistung fähig gewesen sei.
Auch Raimund Lachner geht in seinem Beitrag über "Religion" im 18. Jahrhundert nicht auf die kulturwissenschaftlichen Komponenten dieses Komplexes ein, sondern konzentriert sich einerseits auf eine (in der Antike einsetzende) Begriffsgeschichte von "Religion", andererseits auf die Verschiebung von Religion als einer äußeren Pflicht zu einer inneren Überzeugung, wie sie vor allem in der Auseinandersetzung prominenter Aufklärer mit diesem Gegenstand verortet wird. Auch Christina Schües' Frage, was Bildung im 18. Jahrhundert heiße, wird vor allem anhand der Rekapitulation von Aussagen einschlägiger Figuren der Aufklärung beantwortet, wobei die Inhalte der Aufklärungsphilosophie hier zuweilen in recht schlichter Manier dargeboten werden (81, 91).
An sich sehr überzeugend ist wiederum der Beitrag von Peter Nitschke über den Zusammenhang von Aufklärung und Politik, in dem er in einer eigentlich recht knappen Skizze eine Zertrümmerung der Mythisierung der aufgeklärten (wie auch der absolutistischen) Politik unternimmt. Insbesondere in Auseinandersetzung mit dem "Philosophenkönig" Friedrich II. zeigt er demgegenüber, wie Aufklärung zur Bestätigung und Festigung fürstlicher Herrschaft diente - als These sicherlich nicht ganz neu, aber trotzdem immer wieder erfrischend. Dennoch muss man auch nach der Lektüre dieses Beitrags die Frage stellen, wo sich hier die Kulturwissenschaften versteckt halten.
Patricia-Charlotta Steinfelds Beitrag über die Haskala erweist sich mit seinen generellen Bemerkungen über die Aufklärung (117-124) als sehr allgemein und geradezu enzyklopädisch (und daher in einem Sammelband eher nichtssagend). Hier wäre es sicherlich hilfreicher gewesen, diese wertvollen Seiten stattdessen für eine etwas ausführlichere Darstellung der spezifisch jüdischen Aufklärung zu verwenden.
Mit nur einer Ausnahme ziehen die Beiträgerinnen und Beiträger ihre Qualifikation zur Abfassung eines Aufsatzes nicht zuletzt aus der Tatsache, dass es sich um Angehörige der Universität Vechta handelt - und dies zuweilen auch auf Kosten der fachlichen Qualität. Problematisch ist das, wenn sich beispielsweise Johanna Bödege-Wolf, die ihre Forschungsschwerpunkte in den politischen und administrativen Grundlagen der sozialen Arbeit, der Verwaltungsreform und der Arbeitsmarktpolitik hat, zum Erdbeben von Lissabon 1755 äußert. Das Ergebnis ist nicht nur als Zusammenfassung der vorhandenen Literatur zum Thema wenig überraschend, sondern streckenweise ärgerlich, wenn beispielsweise behauptet wird, in den Dreißigjährigen Krieg seien "alle europäischen Mächte verwickelt" (139) gewesen, was nicht zutreffend ist, oder wenn tatsächlich die Aussage getroffen wird, im Vergleich zum 17. Jahrhundert seien die Kriege des 18. Jahrhunderts "kleiner dimensioniert" (139) gewesen. Das genaue Gegenteil ist richtig, denn nie zuvor standen in der Geschichte Europas mehr Menschen unter Waffen.
Die beiden letzten Beiträge des Bandes tragen dazu bei, seine Uneinheitlichkeit zusätzlich zu unterstreichen. Rita Stein-Redent fragt nach den unterschiedlichen "Lebensstilen", die sich in Russland während des 18. Jahrhunderts ausgebildet haben. Diese Lebensstile verbinden sich einerseits mit den politischen Verschiebungen unter Peter I. beziehungsweise Katharina II., verdanken sich andererseits den ständischen Unterschieden, kristallisieren sich aber auch anhand der Differenz zum europäischen "Westen" heraus. Bernd Ulrich Hucker zeichnet schließlich die historiographische und topographische Literatur Niedersachsens während des 18. Jahrhunderts nach. Dabei handelt es sich um eine Art kommentierter Bibliographie, die ohne Fragestellung oder Thesenbildung auskommt, die sich an einer Stelle sogar zu der Behauptung aufschwingt, dass die Tätigkeit Friedrich Schillers als Historiker an der Universität Jena "wenig bekannt" (201) sei.
Dieser Sammelband scheint sich nicht so recht entscheiden zu können, ob er Überblickswerk und Handbuch zu den (Kultur-?)Wissenschaften des 18. Jahrhunderts oder Sammlung spezieller Untersuchungen zu wissenschaftshistorischen Detailfragen der Aufklärung sein will. Zum Teil geht es in eher globalen Zugriffen um Religion, Bildung oder Politik, zum Teil aber in einem kleinteiligeren Zuschnitt um die Haskala, das Erdbeben in Lissabon oder die Geschichte der niedersächsischen Historiographie und Topographie im 18. Jahrhundert. Wenn überhaupt, dann haben wir hier einen Band über die Rolle der Wissenschaften im "Zeitalter der Aufklärung" vorliegen, aber keinen über Kulturwissenschaften im 18. Jahrhundert. Es bleibt aber fraglich, ob eine solche Umetikettierung dem Gesamtunternehmen geholfen hätte.
Achim Landwehr