Nicolai Hannig: Die Religion der Öffentlichkeit. Kirche, Religion und Medien in der Bundesrepublik 1945-1980 (= Geschichte der Religion in der Neuzeit; Bd. 3), Göttingen: Wallstein 2010, 456 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-0799-5, EUR 39,90
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In der Zeitgeschichtsforschung ist seit einiger Zeit ein wachsendes Interesse an Fragen der Religion festzustellen. Dabei wird die lange als unumstößlich geltende Säkularisierungsthese sowohl als Leitbild der Sozialgeschichtsschreibung als auch als binnenkirchliches "Narrativ" hinterfragt. Der Blick richtet sich besonders auf die Entwicklungen in der Bundesrepublik zwischen Besatzungszeit und Wiedervereinigung. Zu den inzwischen erreichten Einsichten zählt, dass eine Ende der 1950er Jahre einsetzende "Entkirchlichung" keineswegs mit dem Bedeutungsverlust des Religiösen gleichzusetzen ist.
An diesem Punkt setzt die Studie von Nicolai Hannig ein. Der Titel Die Religion der Öffentlichkeit bringt Gegenstand und Kernthese griffig zum Ausdruck: die Wirkung, die von der "Präsenz einer medienöffentlichen Deutung von Religion" (9) auf die Gesellschaft und die Kirchen, ausgeht. In neuer Weise und vorher nicht gekanntem Umfang wurden Kirche und Religion praktisch von außen beobachtet; diese öffentliche Fremdwahrnehmung durch Presse, Rundfunk und Fernsehen entfaltete ein eigenständiges, vom kirchlichen Selbstverständnis losgelöstes religiöses Spektrum, das einen enormen Wandel und eine Individualisierung bzw. Pluralisierung des religiösen Feldes bewirkte. Es passt zu den bekannten Forschungsbefunden, wenn Hannig die "Jahre um 1958 als historische Wendemarke für die Medialisierung des Religiösen" (108) ansieht. Seinem vornehmlich diskursanalytischen Zugang entsprechend stützt der Autor seine Beobachtungen auf ein Quellenensemble aus Rundfunk- und Pressearchiven (u.a. WDR, SWR, Spiegel-Archiv), veröffentlichtem Filmmaterial, vor allem aber aus nicht-kirchlichen Printmedien (u.a. Spiegel, Stern, Twen, Die Zeit) (29-31, 38).
Im Anschluss an die Einleitung entfaltet Hannig seine These inhaltlich in vier großen Kapiteln und gelangt dabei zu einer Reihe von differenzierenden Ergebnissen:
(1) Entgegen der bereits in den 1950er Jahren einsetzenden Entkirchlichung "waren es in hohem Maße die Massenmedien ..., die den Eindruck eines religiösen Revivals in den Nachkriegsjahren erst ermöglichten und durch ihre zum Großteil christlich-konservativen Argumentationsstrategien religiöse Sinnstiftungen öffentlich plausibilisierten" (45). Hannig belegt dies v.a. mit der Bedeutung religiöser Rundfunksendungen und dem Einfluss, den Kirchenvertreter auf die Gestalt dieses neuen, weitverbreiteten Mediums nahmen (47-77). Auflagestarke Publikumszeitschriften ergänzten diese öffentliche Plausibilität, in dem sie - etwa durch Reportagen über die Bibel - Religion und Kirche in den allgemeinen "Konsensjournalismus" (85) einbezogen (79-98).
(2) Zur Initialzündung für einen grundlegenden Wandel solcher medial verstärkter, kirchlich-religiöser Plausibilitäten wurden personelle Veränderungen in den Redaktionsetagen. Dort wurden junge, der 45er-Generation angehörende Journalisten zu Akteuren eines kritischen "Religionsjournalismus" (103, 107). Sie drängten den kirchlichen Einfluss auf die öffentlichen Medien zurück und entwickelten "ein religiöses Leitbild, das vor allem durch eine innere und äußere Wahrhaftigkeit gekennzeichnet" war bzw. "ein Ideal des Authentischen" stilisierte (126). Dass dieser Wandel zum unabhängigen, investigativen Religionsjournalismus rasch auch Rundfunk- und Fernsehredaktionen erfasste, erzeugte öffentlichen Druck, der die Kirchen nötigte, sich stärker in die Mediengesellschaft einzufügen (160).
(3) Das umfangreichste Kapitel (163-304) beschreibt die Auswirkungen des neuen kritischen Religionsjournalismus in den 1960er Jahren: Hannig sieht in ihm nicht einfach einen Agenten der Säkularisierung (164); er betont zunächst im Gegenteil, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für die Religion gerade gegenläufig zum Entkirchlichungsprozess gesteigert worden sei (171-173). Im Unterschied zu den 1950er Jahren stellte der kritische Religionsjournalismus kirchliche Deutungen und Plausibilitäten radikal in Frage: Journalisten und medialer Wandel wurden ein "entscheidender Faktor" (302) des religiösen und kirchlichen Transformationsprozesses: Die öffentlichen Debatten über die Bekenntnisschule, die NS-Vergangenheit und kirchliche Sexualmoral bewirkten durch teilweise bewusste "Skandalisierung", dass kirchliche Führungseliten delegitimiert, gesellschaftliche, politische und moralische Deutungskompetenzen von den Kirchen abgekoppelt und diese aus gesellschaftlichen Verantwortungsbereichen verdrängt wurden (173). Hatten Presse, Rundfunk und Fernsehen vormals kirchlich-religiöse Weltdeutung öffentlich plausibilisiert, so konterkarierten sie durch ihre "demokratische" Kritik am engen Zusammenwirken von Politik und Kirche die semantische und strukturelle Öffnung der Kirchen zur "Welt". Kirchliche Selbstbeschreibung, soziale Praxis und mediale Fremddeutung traten auseinander (302-304).
(4) Schließlich löste der Religionsjournalismus durch die breite Veröffentlichung von Meinungsumfragen zu Glaubens- und Transzendenzvorstellungen die frühere Gleichsetzung von Religion und Kirche auf: Die demoskopische Perspektive deckte die Divergenzen zwischen individueller religiöser Lebenswelt und kirchlicher Glaubensnorm auf. Unter der Leitidee der Selbstbestimmung "wurde das religiöse Individuum zur zentralen Figur der Religion der Öffentlichkeit" (317; 328). Diese medial beförderte Individualisierung machte den Glauben allerdings nur bedingt "demokratischer", weil die Meinungsumfragen stets verstreute Mehrheiten homogenisierten und ihnen öffentlich eine Vorbildfunktion zuwiesen (326-330). Zur Öffnung des religiösen Feldes gehört schließlich auch folgender überraschender Befund: Seit den späten 1960er Jahren hob ein gewandelter Religionsjournalismus (einschließlich Rudolf Augsteins und Axel Springers) die individuelle Sinnsuche nach Gott und entsprechende mystisch-spirituellen Glaubensformen heraus. Er grenzte sich damit entschieden von "linken" Reformtheologien ab, die auf Politisierung der Religion und Kirchenkritik zielten. (356 f.). Neben die christliche Religion traten in der Öffentlichkeit schließlich auch andere Weltreligionen, Sekten und "Privatchristentümer" (362, 371 f.).
Hannigs aufschlussreicher Studie kommt das Verdienst zu, die allgemeine politische, geistige und theologische Situation der 1950er bis 1970er Jahre aus der Fremdwahrnehmung medialer Öffentlichkeit zu rekonstruieren. Dass dies nur die eine Seite der historischen Wirklichkeit sind, weiß der Autor. In der Beschreibung der komplexen Wechselwirkungen mit den gesellschaftspolitischen und innerkirchlichen Entwicklungen bleibt dies indes gelegentlich unterbelichtet. So agierte der kritische Religionsjournalismus etwa bei der von ihm betriebenen "Entpolitisierung" der Kirchen selbst "politisch", wenn die 45er-Generation der Journalisten sich offenbar bedenkenlos mit Material aus der DDR versorgen und sich zum Handlanger von antiwestlichen Kampagnen des Ministeriums für Staatssicherheit machen ließ (190 f., 242). Auch wird nicht immer klar, inwieweit der Religionsjournalismus dem medialen Mainstream folgte und seine religiösen Themensetzungen kommerziell bedingt waren.
Weiterführenden Forschungen bleibt es hingegen vorbehalten, den von Hannig als hoch veranschlagten Einfluss zu überprüfen, den eine mediale Fremddeutung von Kirche und Religion auf die Transformation traditioneller Glaubensplausibilitäten, aber auch auf den Rezeptionsprozess kirchlicher Reformanstrengungen ausübte. In diesem Zusammenhang wäre dann auch der weitgefasste Religionsbegriff zu diskutieren, der dieser anregenden Studie zugrunde liegt.
Christoph Kösters