Friederike Sattler / Christoph Boyer (eds.): European Economic Elites. Between a New Spirit of Capitalism and the Erosion of State Socialism (= Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Bd. 84), Berlin: Duncker & Humblot 2009, 594 S., ISBN 978-3-428-13181-5, EUR 88,00
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Friederike Sattler: Herrhausen. Banker, Querdenker, Global Player. Ein deutsches Leben, München: Siedler 2019
Der gesellschaftliche Vertrauensverlust in Teile der wirtschaftlichen Eliten ist angesichts der 2007 ausgebrochenen Finanzkrise und der nachfolgenden Verwerfungen in der Weltwirtschaft offensichtlich, auch wenn die sozialen Folgen des globalisierten Wettbewerbs sowie die Deregulierung von Finanzmärkten schon lange zuvor kritisiert worden waren. Kurz nach dem Ausbruch der Krise fand im November 2007 am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam eine internationale Konferenz zum Thema "European Economic Elites. Between a New Spirit of Capitalism and the Erosion of State Socialism" statt. 19 Referenten beschäftigten sich mit der Frage, welchen Veränderungen, Zwängen und Herausforderungen sich ökonomische Eliten im 20. Jahrhundert ausgesetzt sahen und welche Entscheidungsspielräume und -optionen sie im Rahmen der jeweiligen Wirtschaftsordnung besaßen.
Zwar war die zeitliche Nähe von Krisenausbruch und Konferenz wohl kaum mehr als ein Zufall, aber die Vorträge der Wirtschafts- und Sozialhistoriker verwiesen natürlich auf mögliche Ursachen für die aktuellen Probleme der europäischen Wirtschafts- und Sozialstaatsmodelle. In einer einführenden Analyse gehen die Herausgeber des Bandes davon aus, dass sich die europäischen Staaten vor 1989 mit denselben Herausforderungen konfrontiert sahen: nämlich der dritten industriellen (elektronischen) Revolution und der Globalisierung. Sie stellten die politischen und wirtschaftlichen Eliten in West- und Osteuropa - trotz aller Differenzen bezüglich der Herrschaftsverhältnisse und der Wirtschaftsorganisation - vor ähnliche Probleme, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Seit 1989 haben sich die Entwicklungswege wegen der Transformationsprozesse in den osteuropäischen Staaten bekanntlich angeglichen.
Die sechs Abteilungen des Sammelbandes decken unterschiedliche Aspekte des Themenbereichs ab und entwickeln dabei eine klare Dramaturgie: Den Anfang machen einführende Beiträge über Deutschland und Ungarn in der Sektion "Economic Elites in the Twentieth Century: Overviews from Western and Eastern Perspectives", es folgen Abhandlungen über die Struktur der Eliten in einzelnen Staaten West- und Osteuropas in zwei Abteilungen zu "Formations and Profiles in Western Europe: Between Cohesion and Fragmentation" sowie "Formations and Profiles in Eastern Europe: Between Erosion and Transformation". Den Herausforderungen der technischen Entwicklung sind Fallbeispiele zu BRD, DDR, Österreich und Norwegen in "Challenges and Responses: Strategies during the Third Industrial Revolution" gewidmet, Wertewandel und Legitimationsprobleme werden an den staatssozialistischen Beispielen DDR, Polen und Litauen in der Abteilung "Changes of Values, Interpretations and Legitimations" erörtert. Der Band schließt ab mit einer Sektion zum Thema "On the Way towards a Transnational Business Elite?", die die gegenwärtige Lage problematisiert.
Im Folgenden sollen die grundlegenden Tendenzen dargestellt werden, die sich aus den einzelnen Beiträgen ergeben und die in dem ausführlichen und theoretisch fundierten einleitenden Überblick von Friederike Sattler und Christoph Boyer zusammengefasst sind. Danach weisen die Entwicklungen der west- und osteuropäischen Staaten nach 1945 anfangs Parallelen auf: Auf das "fordistische Produktionssystem" gestützte Arbeitsgesellschaften wurden von sozialpolitischen Maßnahmen abgesichert, die Massenkonsum und soziale Sicherheit gewährleisten sollten. Somit war trotz aller gravierenden Unterschiede zwischen den beiden "Makro-Modellen" des demokratischen Wohlfahrtsstaates (hier "Keynesian neo-corporatist welfare states" genannt) und des staatssozialistischen Regimes staatlicher Interventionismus allgegenwärtig - und zwar als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit. Die westlichen Staaten reagierten aber auf die oben genannten Herausforderungen flexibel (zu Lasten des sozialstaatlichen Interventionismus), die östlichen gingen zugrunde. In letzteren folgte nach 1989 die schnelle Anpassung an das westliche Modell, die aber bisher nur teilweise gelang. Diese Prozesse wirkten auf die Wirtschaftseliten, ihr Selbstverständnis und ihr Handeln ein bzw. wurden gleichzeitig von diesen beeinflusst. Die Orientierung am Shareholder Value und die damit einhergehende Dominanz der Kapitalmärkte spielten in West- wie (später) in Osteuropa eine immer zentralere Rolle und bilden - so ist hinzuzufügen - das Verbindungsglied zur oben erwähnten Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007.
Obwohl westliche und östliche Wirtschaftsführer vor 1989 auf den ersten Blick wenig gemein haben mochten, waren sie den Herausgebern zufolge, die hier Stefan Hornbostel folgen, in beiden Fällen letztlich Funktionseliten in modernen bürokratischen Gesellschaften. Sie böten somit durchaus genügend Ansatzpunkte für vergleichende Perspektiven. Im östlichen Lager waren die Funktionsträger geprägt von einer aufgrund des Elitenwandels nach 1945 stark veränderten Sozialstruktur und ihrer daraus resultierenden politischen Loyalität. Eine funktionale und soziale Differenzierung war aber letztlich auch im staatssozialistischen Modell nicht zu vermeiden. Für viele westliche Staaten ist eine Selbstrekrutierung der Wirtschaftseliten zu konstatieren, was das soziale Profil weitgehend verfestigte. Hierzu ist der Beitrag von Dieter Ziegler über deutsche Wirtschaftseliten im 20. Jahrhundert aufschlussreich, der auch Großbritannien, Frankreich und Spanien berücksichtigt. Wie sich das - nicht zuletzt aufgrund ihres Sozialprofils - unterschiedliche Selbstverständnis von Wirtschaftseliten in beiden Makro-Modellen auswirken konnte, zeigt Manuel Schramm am Beispiel des Wissenstransfers. Er sieht (neben der Abschließung vom Westen) in der mangelnden Verbindung von Hochschulen und Betrieben einen nachteiligen Effekt für die DDR-Wirtschaft, während in der BRD der Wissenstransfer unter anderem wegen personeller Verbindungen von Wirtschaftseliten und Hochschulen zum Vorteil von Forschung und Entwicklung genutzt wurde.
Für die Wirtschaftseliten beider Makro-Modelle bildete jahrzehntelang der Nationalstaat den dominierenden Handlungsrahmen, den die Globalisierung letztlich sprengte. Als größte Veränderung ist hierbei der Siegeszug eines auf kurzfristige Gewinnsteigerungen an den Kapitalmärkten orientierten Managements zu identifizieren, das sich rasch durchzusetzen begann. Der sich immer stärker entwickelnde Gegensatz von Kapital und Arbeit ging mit einer veränderten Haltung der westeuropäischen Wirtschaftseliten einher. Mit deren im Band konstatierten relativen Offenheit gegenüber staatlichem Interventionismus in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war es weitgehend vorbei. Die Auffassung, dass sich nun eine "transnationale Kapitalistenklasse" herausgebildet hat bzw. herausbildet, vertritt gut begründet Leslie Sklair am Ende des Bandes. Diese dominiere zusehends, nicht zuletzt durch ihre Vernetzung mit anderen Gruppen - unter anderem in Wissenschaft und Medien - Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Eine sichtbare Folge sei die Kommerzialisierung aller gesellschaftlichen Sphären.
Natürlich kann selbst dieser fast 600 Seiten starke Band nicht alle Fragen anschneiden, die die verschiedenen Themen und regionalen Schwerpunkte aufwerfen. So scheint das darin nicht in einem eigenständigen Beitrag behandelte Großbritannien wegen der in den 1980er Jahren erfolgten radikalen Liberalisierung und der auffallend starken Stellung der neuen Finanzeliten ein besonders interessantes Beispiel für den europäischen Wandel zu sein. Überhaupt existierten innerhalb der beiden "Makro-Modelle" zwischen einzelnen Staaten zum Teil erhebliche Unterschiede, die zu systematisieren wären. Dies ändert aber selbstverständlich nichts an der richtungsweisenden Bedeutung dieser Publikation: Die dort konsequent verfolgte und in der hervorragenden Einleitung zugespitzte vergleichende Betrachtung west- und osteuropäischer Entwicklungen ist für die Analyse beider Modelle äußerst aufschlussreich und bisher zu Unrecht vernachlässigt worden. Hier ließe sich mit weiteren komparativen Studien ansetzen. In den Blick rücken könnte dabei zum Beispiel in Anknüpfung an Sklairs Beitrag eine vergleichende Analyse des doch recht rasanten Aufstiegs jener neuen Kapitalistenklasse, die offensichtlich ein ganz anderes Selbstverständnis und ganz andere Handlungslogiken als die "traditionelle" europäische Wirtschaftselite herausgebildet hat.
Volker Zimmermann