Rezension über:

Aleksandr Galkin / Anatolij Tschernjajew (Hgg.): Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986-1991 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 83), München: Oldenbourg 2011, XXXV + 640 S., ISBN 978-3-486-58654-1, EUR 69,80
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Rezension von:
Jochen Laufer
Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Jochen Laufer: Rezension von: Aleksandr Galkin / Anatolij Tschernjajew (Hgg.): Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986-1991, München: Oldenbourg 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/09/19643.html


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Aleksandr Galkin / Anatolij Tschernjajew (Hgg.): Michail Gorbatschow und die deutsche Frage

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Glasnost' - also Transparenz und Offenheit - war eine der wirksamsten Neuerungen, die der am 11. März 1986 zum Generalsekretär der KPdSU gewählte 55-jährige Michail Gorbatschow in die sowjetische Politik einführte. Sie bestimmte zwar längst nicht immer seine Politik, wohl aber seine letzten Amtshandlungen, mit denen er sich den dauerhaften Zugriff auf einen wesentlichen Teil der Akten aus seinem Büro sicherte, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Genau auf diesen Akten, die inzwischen im Archiv der Gorbačev-Stiftung aufbewahrt werden, basiert die hier zu rezensierende Auswahledition. Schon vor dieser Veröffentlichung konnte Helmut Kohl bei der Abfassung seiner Memoiren auf diese Dokumente zurückgreifen.

In diesem Dokumentenband ist der Atem der Geschichte deutlich zu spüren. Aufschlussreich ist die Darstellung des politischen und gesellschaftlichen Hintergrunds der edierten Dokumente durch die russischen und die deutschen Herausgeber in ihren getrennten Vorworten. Beide gehen gemeinsam von der zentralen Rolle Michail Gorbatschows aus, doch stärker als Galkin und Tschernjajew betonen Altrichter und Möller die Bedeutung der Wandlungsprozesse innerhalb der Sowjetunion, aber auch innerhalb der DDR für die Veränderungen der sowjetischen Politik in der deutschen Frage am Ende der achtziger Jahre. Ob die Abkehr von der "Weltrevolution" und vom "Export der Revolution" erst unter Gorbatschow vollzogen und ob erst durch ihn der "eiserne Vorhang in Europa" gehoben wurde (IX) oder ob diese Zuordnungen nicht eher der überkommenen westlichen Perzeption sowjetischer Politik entsprechen, bleibt fraglich. Während Galkin und Tschernjajew die Bedeutung des "antideutschen Syndroms" in der sowjetischen Bevölkerung betonen, das durch die jahrelangen Beziehungen der UdSSR zur DDR, aber auch durch die neue Ostpolitik abgebaut worden sei, heben Altrichter und Möller die große Bedeutung beider deutschen Staaten für Politik und Wirtschaft der UdSSR hervor.

Obwohl es nach der Übernahme der zentralen Machtposition im Sowjetimperium noch zweieinhalb Jahre dauerte, ehe Michail Gorbatschow den deutschen Kanzler im November 1988 zu einem offiziellen Besuch empfing, wurde Helmut Kohl schnell zu seinem wichtigsten Gesprächspartner. Auf der Annäherung zwischen diesen beiden Akteuren lag der Fokus bei der Auswahl der insgesamt 138 leider größtenteils gekürzt wiedergegebenen Dokumente. An den insgesamt 77 persönlichen und telefonischen Gesprächen Gorbatschows mit zumeist deutschen Politikern und anderen Persönlichkeiten, die in diesem Band zum Abdruck kommen, war Kohl insgesamt 19 Mal beteiligt. Zu den übrigen Gesprächspartnern zählten neben den Staatschefs bzw. Außenministern Bush, Thatcher, Mitterand, Andreotti, Jaruzelski, Dubček, Baker, Hurd, Dumas und de Michelis 17 Westdeutsche (u. a. Augstein, Bahr, Bangemann, Brandt, Genscher, Lafontaine, Rau, Späth, Strauß, Teltschik, Vogel, Waigel, Weizsäcker und Wörner) und lediglich fünf Ostdeutsche (Gysi, Honecker, Krenz, de Maizière und Modrow).

Editionen können Aktivitäten, die sie dokumentieren, durch Kommentierung und Einleitung verständlicher machen. Wieweit dies gelingt, lässt sich am besten an Wohlbekanntem überprüfen. Dazu gehört zweifellos das im vorliegenden Band abgedruckte "10-Punkte-Programm", das Bundeskanzler Kohl am 28. November 1989 im Bundestag vorstellte. Seine Ausarbeitung wurde durch Informationen über die offizielle und inoffizielle sowjetische Position zur deutschen Einheit ausgelöst, die Horst Teltschik auf vertraulichem Wege von Nikolai Portugalow erhalten hatte. Diese Nachrichten trugen dazu bei, den Kanzler zu veranlassen, deutschlandpolitisch "in die Offensive" zu gehen. [1] Durch die Edition erfahren wir, dass Gorbatschow die Vorbereitung der beabsichtigten Programmerklärung völlig unbekannt blieb. Doch das ist nicht mehr als das, was wir bereits vorher wissen konnten. Auch die zunächst entschieden ablehnende Position Gorbatschows in Bezug auf dieses Programm ist schon seit langem bekannt. Wir erfahren nicht, wie Gorbatschow auf den ausführlichen Brief des Kanzlers vom 14. Dezember reagierte, mit dem dieser sein Programm mit vielen klugen Argumenten nachträglich begründete. [2]

Zu den erstaunlichsten Dokumenten dieses Bandes zählt der Bericht von Vadim Zagladin über ein Gespräch mit Botschafter Blech am 16. November 1989. Der außenpolitische Berater des Generalsekretärs hielt dabei folgende Äußerung des deutschen Diplomaten für so berichtenswert, dass er sie in direkter Rede wiedergab: "Abgesehen davon, dass die Bürger der DDR Deutsche sind, sind sie trotzdem Patrioten ihres Landes. Und dieses Land ist in vieler Hinsicht anziehender für jedweden Deutschen als die BRD. [...] Das Leben in der DDR ..., obgleich sie bisher ein Polizeistaat war, ist ruhiger. Es verläuft dort bedächtig. Dies ist die alte preußische Lebensart, die dem deutschen Charakter so lieb und wert ist, auch dem meinen." (Dok. Nr. 55). Die Hintergründe, warum Klaus Blech diese wahrscheinlich beruhigend gemeinte Erklärung abgab, erfahren die Leser nicht.

Von besonderem Wert für die Forschung sind die in diesem Band veröffentlichten Auszüge aus Protokollen des Politbüros der KPdSU und ähnlichen internen Dokumente, die Einblick in die sowjetischen Entscheidungsprozesse geben. Sie belegen den zentralen Stellenwert der deutschen Frage im außenpolitischen Denken Gorbatschows und den erstaunlichen Wandel, der sich darin vollzog. Während er erstaunlich früh eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten als taktisches Mittel seiner Politik und als drohende Gefahr ins Kalkül zog (Dok. 1-2, 8, 12), verhielt er sich zur tatsächlichen Vereinigung Deutschlands jedoch bis Februar 1990 abwehrend (Dok. 76). Letztendlich stimmte Gorbatschow der Vereinigung und allen sich daraus ergebenen Folgerungen (vor allem der Nato-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands) nur zu, als seine deutschen Gesprächspartner die Endgültigkeit der Oder-Neiße-Grenze anerkannten.

Wie für Editionen aus dem Institut für Zeitgeschichte seit jeher Standard, ist auch dieser Band mit allen notwendigen Registern und Verzeichnissen ausgestattet. Alle Bestandteile der Edition sind mit großer Sorgfalt bearbeitet. Die Einbettung in den deutschen und internationalen Überlieferungskontext war das wichtigste Editionsprinzip für die Erstellung der deutschen Ausgabe. Im Mittelpunkt der außerordentlich zahlreichen, knappen und präzisen Fußnoten steht allerdings nicht die Angabe der primären (Gegen-)Überlieferungen, sondern vorrangig der philologische Vergleich der abgedruckten Dokumente mit den vorausgegangen russischen, deutschen und sonstigen Veröffentlichungen eben dieser Dokumente. Offensichtlich erbrachte der inhaltliche Abgleich der sowjetischen Gesprächsaufzeichnungen mit den bisher zugänglichen nichtsowjetischen Gegenüberlieferungen keine Differenzen, die in der Kommentierung hätten dargelegt werden müssen. Ein Eindruck von Unentschiedenheit entsteht durch die Doppelung der Dokumententitel und der Kommentierung. Die diesbezüglich spärlichen Texte der russischen Ausgabe ergänzten die deutschen Herausgeber und Bearbeiter durch neue Überschriften und Fußnoten, die in der Regel viel präziser sind als die russischen Rudimente. Warum ein Abgleich der in verschiedenen Textvarianten veröffentlichten Dokumente mit den Originalen offenbar nicht stattgefunden hat, wird allerdings nicht erläutert. Notwendig wäre dies schon gewesen, denn nur so hätten sich die in der russischen Ausgabe vorhandenen Auslassungen vollständig exakt erläutern lassen. Dieser Einwand mindert keineswegs den Wert des Bandes, der nicht nur einen bedeutenden Fortschritt gegenüber allen vorangegangenen Teilveröffentlichungen kennzeichnet, sondern allen deutschen Lesern die bisher so nicht vorhandene Möglichkeit bietet, sich über die Position Gorbatschows zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu informieren.


Anmerkungen:

[1] Vgl. DzD Deutsche Einheit 1989/90, 616-618 und dazu die dortige Anmerkung 1, sowie Helmut Kohl: Erinnerungen 1982-1990, 990-1000.

[2] DzD Deutsche Einheit 1989/90, 645-650.

Jochen Laufer