Rezension über:

Richard Lein: Pflichterfüllung oder Hochverrat? Die tschechischen Soldaten Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg (= Europa Orientalis; Bd. 9), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2011, 441 S., 21 s/w-Abb., 3 Kt., ISBN 978-3-643-50158-5, EUR 49,90
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Rezension von:
Pascal Trees
Bonn
Empfohlene Zitierweise:
Pascal Trees: Rezension von: Richard Lein: Pflichterfüllung oder Hochverrat? Die tschechischen Soldaten Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/09/19792.html


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Richard Lein: Pflichterfüllung oder Hochverrat?

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Richard Lein hat 2009 an der Universität Wien eine Dissertation verteidigt und nun in einer erweiterten Fassung vorgelegt, die den deutsch-tschechischen Nationalitätenkonflikt in der Habsburger Monarchie zum Hintergrund hat. Er befasst sich mit der Reputation der Unzuverlässigkeit und bereitwilligen Fahnenflüchtigkeit, die den tschechischen Soldaten der kaiserlich-königlichen Streitkräfte nach dem Ersten Weltkrieg anhaftete.

Den Keim für diesen schlechten Ruf legte die Schlacht bei Esztebnekhuta (heute Stebnícka Huta an der slowakisch-polnischen Grenze) zwischen russischen und österreichischen Verbänden, in deren Verlauf nicht nur das vorwiegend aus Tschechen bestehende k.u.k.-Infanterieregiment 28 im April 1915 weitgehend vernichtet wurde, sondern auch die 3. und 4. österreichisch-ungarische Armee eine Niederlage hinnehmen mussten. In der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen war dieser Ausgang vor allem dem fehlenden Kampfeswillen der beteiligten Tschechen geschuldet.

Zwei Jahre später schien sich dieses Bild zu bestätigen, als tschechischen Soldaten im Juli 1917 bei Kämpfen um das galizische Zborów offenbar erneut der nötige Widerstandswille verloren ging, diesmal angeblich, weil an der Seite des russischen Gegners eine aus Auslandstschechen sowie aus tschechischen und slowakischen Kriegsgefangenen bestehende Schützenbrigade in Stellung ging, die besser als Tschechoslowakische Legion bekannt ist. In dieser Situation, so der zeitgenössische Vorwurf, hätten sich Österreich-Ungarns tschechische Soldaten entweder kampflos ergeben oder seien gar in beträchtlicher Zahl zum Feind übergelaufen, so dass der Donaumonarchie ein weiterer empfindlicher Hieb versetzt wurde.

Während all dies auf deutsch-österreichischer Seite dazu beitrug, dass sich ein negatives Stereotyp vom "falschen Böhm", von den untreuen und unzuverlässigen Tschechen, verfestigte, unternahmen letztere keinen ernsthaften Versuch, diese Sicht zu korrigieren: Vielmehr wurden die mutmaßlich widersetzlichen Weltkriegsteilnehmer in der Armee Österreich-Ungarns, besonders aber die auf russischer Seite kämpfenden "Legionäre" nach 1918 zu Wegbereitern des tschechoslowakischen Staates und damit zum festen Bestandteil eines nationalen Mythos umgedeutet.

Da Mythen, insbesondere nationale, für Historiker/innen seit geraumer Zeit gleichsam "Freiwild" sind, hat sich Lein ein ebenso legitimes wie interessantes Ziel ausgesucht. Seine Aufgabe sieht er darin, diese Legenden zu falsifizieren (31) und altbekannte Mythen und Stereotypen zu beseitigen (37), die sich unter anderem deshalb so zählebig zeigen, weil der Zweite Weltkrieg und die ihm folgende kommunistische Herrschaft in der Tschechoslowakei nicht nur die Bedeutung des Sachverhaltes selbst relativiert, sondern auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm bis in die 1990er Jahre hinein verhindert haben.

Als defizitär und daher legendenbegünstigend hat Lein aber vor allem den Kenntnisstand über die tatsächlichen militärischen Ereignisse sowohl bei Esztebnekhuta als auch bei Zborów empfunden, so dass er folgerichtig keine diesbezügliche Diskursanalyse durchführt, sondern schlicht Sachverhaltsermittlung betreibt. Sein Duktus ist dabei mitunter der eines anwaltlichen Plädoyers, das den tschechischen Kombattanten der Weltkriegsjahre 1914-1918 jene Rehabilitierung bringen soll, die ihnen die deutsch-österreichische Öffentlichkeit bislang verweigert hat.

Seine Beweisführung, die sich naheliegenderweise vor allem auf Quellen aus dem Österreichischen Staatsarchiv Wien-Kriegsarchiv, eine Anzahl tschechischer Bestände sowie einen Fundus an gedruckten Quellen, Erinnerungsliteratur, Publizistik und Presse stützt, nimmt knapp 75 Prozent des Buches ein und kommt im Wesentlichen zu dem Ergebnis, dass die tschechischen Soldaten der Donaumonarchie sich in den fraglichen Gefechten insgesamt nicht schlechter geschlagen hätten als alle anderen auch. Diese argumentative Hauptkampflinie sichert er durch eine Analyse der Voraussetzungen ab, unter denen die beiden fraglichen Zusammenstöße stattgefunden haben. Unter den gegebenen Bedingungen - Material, Nachschub, Feindaufklärung und dergleichen - sei eine bessere Leistung auch anderen, über alle Zweifel erhabenen Truppen beim besten Willen nicht möglich gewesen.

All dies kann Lein nach erkennbar mühseliger Kleinarbeit kenntnisreich und überzeugend vertreten, so dass sein Thema in klassisch-militärgeschichtlicher Hinsicht nun wohl tatsächlich als abgearbeitet und eine grundlegende Gefechtstauglichkeit respektive Kampfmoral der tschechischen Untertanen des österreichischen Kaisers als erwiesen gelten kann. Der Preis, den der Leser für diese Form der Detailtreue zu entrichten hat, sind recht lang geratene Darstellungen von Gefechtsvorbereitungen, Analysen von Situationsberichten, einzelnen Befehlen und ihren jeweiligen Folgen auf dem Schlachtfeld.

Dies muss man mögen, so altehrwürdig und legitim das Genre "battle piece" grundsätzlich ist und so wenig hier bestritten werden soll, dass eine von der Realgeschichte völlig abstrahierende Auseinandersetzung mit nationalen Mythen und Stereotypen eine unbefriedigende Komponente hat. Da aber auch Lein den über Esztebnekhuta und Zborów liegenden Nebel des Krieges zwangsläufig nicht überall lichten konnte, sei die Frage erlaubt, ob hier das optimale Instrument gewählt wurde, um dem Problem zu Leibe zu rücken, das der Publikationstitel so griffig in das Begriffspaar "Pflichterfüllung oder Hochverrat" fasst. Anders formuliert, wenn die Tschechen in Österreich-Ungarns Armee nicht weniger loyal und motiviert kämpften als ihre nichttschechischen Kameraden, dann sind die Wurzeln eines solchen Verhaltens nicht weniger erklärungsbedürftig als der mutmaßliche Verrat, dem Lein mit guten Gründen seine ganze Aufmerksamkeit widmet.

Seine Ergebnisse wirken wohl nicht zufällig umso zwingender, je weiter er sich vom Schlachtgeschehen im engeren Sinne entfernt: Dass die österreichische militärische Führung zur Erklärung eigener Unzulänglichkeiten und Versäumnisse auf einen probaten Sündenbock zurückgriff, dessen fehlende Staatstreue unter der deutsch-österreichischen Bevölkerung offenbar konsensfähig war, erscheint ebenso schlüssig wie seine Erklärung der Attacken deutschnationaler Reichsratsabgeordneter auf die tschechischen Soldaten aus innenpolitischen Motiven heraus. Ganz gewiss hätte auch die Darstellung der deutsch-österreichisch-tschechischen Zwischenkriegsdebatte über die fraglichen Vorgänge in diesem Zusammenhang etwas mehr Platz verdient, denn sie dürfte für die Bildung, Verbreitung und Festigung der problematisierten Legenden letztlich entscheidender gewesen sein als das tatsächliche Schlachtgeschehen.

Dieser kritischen Anmerkungen ungeachtet hat Lein mit seiner Arbeit einen wichtigen Brückenkopf in dem Forschungsfeld besetzt, das der ostmitteleuropäische Raum im Ersten Weltkrieg ist. Dieser dürfte im Hinblick auf die dräuenden Jubiläumsjahre 2014-18 auch noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Leins Beobachtungen weisen über den tschechoslowakischen Kontext hinaus und bieten Ansatzpunkte für weitere, vergleichende Studien: Die Frage nach den Faktoren, welche die multiplen Loyalitäten der Untertanen in den drei ostmitteleuropäischen Reichen während des Ersten Weltkrieges determinierten und wie sie sich auf deren Verhalten auswirkten, bleibt ein spannender, gerade erst angerissener Komplex. [1]


Anmerkung:

[1] Vgl. Martin Schulze Wessel (Hg.): Loyalitäten in der Tschechoslowakischen Republik 1918-1938. Politische, nationale und kulturelle Zugehörigkeiten (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum. Hrsg. vom Vorstand des Collegium Carolinum Forschungsstelle für die böhmischen Länder, Bd. 101), München 2004; Peter Haslinger / Joachim von Puttkamer (Hgg.): Staat, Loyalität und Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1918-1941, München 2007.

Pascal Trees