Herbert Molderings / Gregor Wedekind (éds.): L'evidence photographique. La conception positiviste de la photographie en question, Paris: Éditions de la Maison des sciences de l'homme 2009, 470 S., ISBN 978-2-7351-1223-4, EUR 48,00
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In welchem Verhältnis die Fotografie zu künstlerisch geschaffenen Bildern steht, beschäftigt Rezeption und Theorie seit ihrer Erfindung. Eng daran gebunden ist die Frage, was als Ausgangspunkt für die Geschichtsschreibung der Fotografie gelten kann. [1] Im Fokus aktueller Auseinandersetzungen mit der Fotografiegeschichte sind historische und gegenwärtige Positionen und Theorien, die spezifische Dimensionen des Mediums behandeln. [2] Der vorliegende Sammelband, herausgegeben von Herbert Molderings und Gregor Wedekind, greift einen anderen Strang der fotogeschichtlichen Forschung auf. Vor allem in Publikationen der 60er-Jahre wurde alternativ zu einer Beschreibung des fototechnischen Fortschritts das kunsthistorisch vergleichsweise junge Medium ins Verhältnis zur Malerei gesetzt. [3] Allerdings, so stellen die Herausgeber fest, ging es hierbei nicht darum, die Fotografie als autonomes künstlerisches Medium zu begreifen, sondern sie lediglich als Dienerin der Künste zu verstehen.
In Anlehnung an Aby Warburg möchten die Herausgeber eine Herangehensweise an die Fotografiegeschichte stark machen, die das kulturelle Bildrepertoire in den Blick nimmt, auf das sich Fotografien seit 1839 mit unterschiedlichen technischen Möglichkeiten und in verschiedenen Kontexten beziehen. Mit diesem Ansatz soll eine spezifisch kunsthistorische Position aufgezeigt werden, denn seit dem Iconic Turn würden unterschiedliche Disziplinen um die methodische Deutungshoheit von fotografischen Bildern rivalisieren. Die Herausgeber interessiert besonders die strukturelle Parallele zwischen der Konzeption des Positivismus in der Wissenschaft und der Konzeption von Objektivität der Fotografie in den zeitgenössischen Diskursen. Für eine neue Annäherung an die Geschichte des Mediums heben Molderings und Wedekind die Berücksichtigung der Kontexte und Funktionen hervor, in denen die Fotografien stehen. Das Ziel ist es, die Geschichte der Fotografie als Bildgeschichte zu schreiben. Die 13 Beiträge, die in den Jahren 2005 und 2006 im Centre allemand d'histoire de l'art in Paris vorgestellt wurden, gehen anhand von fototheoretischen Metaphern (Fotografie als Spur, als Abdruck, als Retina), historisch-zeitgenössischen Rezeptionen und Fallbeispielen den Verbindungen von Fotografien und anderen künstlerischen Medien nach. Bereichert wird der Sammelband durch künstlerische Beiträge von Edmund Kuppe, Jochen Gerz und Bernhard Blume.
Das Verhältnis der Fotografie zu den klassischen künstlerischen Medien im 19. Jahrhundert, zu Zeichnung, Malerei und Skulptur untersuchen die Beiträge von Sabine Slanina, Gregor Wedekind und Nina Gülicher. In ihrem Aufsatz legt Slanina dar, auf welche Weise Delacroix Kalotypien für seine Zeichnungen nutzte. Im Unterschied zur historisch-zeitgenössischen Auffassung beispielsweise von Francis Wey, der den dokumentarischen Wert von Fotografien für archäologische Monumente hervorhebt, interessiert Delacroix die Doppelnatur des fotografischen Index' zwischen Abbild und Zufall. Slanina kommt zu dem Ergebnis, dass Delacroix in Auseinandersetzung mit den unscharfen Konturen der frühen Fotografie eine Linienführung in seinen Zeichnungen entwickelt, die geprägt ist von Dynamik, Auflösung und Flüchtigkeit.
Anhand von Géricaults Serie zu "Monomanen" zeigt Wedekind in seinem Text auf, wie deren Konzeption von Realismus spätere Fotografien von psychisch und geistig Kranken antizipieren. Dabei ist von Interesse, dass Repräsentationen in beiden Medien mit den gleichen Darstellungsmitteln arbeiten, um Authentizität zu vermitteln: Es finden sich keine anekdotischen Bildelemente oder stereotype Darstellungen einer bestimmten Krankheit. Stattdessen zeigen die Werke das Bemühen, die Abgebildeten in einem bestimmten Moment genau zu porträtieren und jedes Detail ihrer Mimik und ihrer Körperhaltung zu erfassen. Sowohl Malerei als auch Fotografie beweisen ihre Zeugenschaft der Realität im Bild. Wie Wedekind aufzeigt, funktioniert dies jedoch unterschiedlich: Bei der Fotografie erzeugt das Verschwinden des Fotografen hinter dem Sujet einen objektiven Blick, während die Wahrheit der Gemälde über die enge Bindung Géricaults zu den Personen, die er porträtiert, funktioniert.
Die fotografiekritische Haltung Rodins nimmt Nina Gülicher zum Ausgangspunkt für ihre Analysen von Fotografien, die Skulpturen des Künstlers zeigen. Rodin stellt Fotografie und Abguss auf eine Ebene. Beiden spricht er ab, eine innere Wahrheit zutage treten lassen zu können und künstlerisches Ausdrucksvermögen zu besitzen. Gleichwohl kann Gülicher in ihrem Aufsatz zeigen, dass Rodins Auffassung von Skulptur eng verwoben ist mit medialen Möglichkeiten der Reproduktion. So geht Rodin davon aus, dass die Grundlage neuer Schöpfungen die Veränderung und Neuordnung bestehender Arbeiten ist - eine Auffassung, die deutliche Anleihen bei den Eigenschaften des reproduktiven Mediums Fotografie macht. Zusätzlich untersucht Gülicher die Auseinandersetzung mit Rodins Werken in historisch-zeitgenössischen Fotografien. Zwischen 1893 und 1896 entstehen beispielsweise Fotografien von Eugène Druet, die eine eigene Ästhetik des Materials und der Linien entwickeln und in der Rezeption als Bereicherung von Rodins Œuvre gefeiert werden.
Um die Abbildung historischer Ereignisse geht es in dem Text von Ulrich Keller. Er fragt, ob die Rolle der Fotografie in der Geschichtsschreibung über die Aufzeichnung von Geschehnissen hinausgehen kann. Mithilfe von Historiengemälden, Aquarellen und Fotografien vom Krimkrieg und vom Koreakrieg erläutert Keller, inwiefern Kriegsfotografie ihre Glaubhaftigkeit steigert, wenn sie auf die Bildsprache von Historiengemälden und Illustrationen in Journalen Bezug nimmt. Jedoch gibt es auch den medial umgekehrten Einfluss bei der Konstitution eines Motivs. So ist das Bild, das den Moment des Zusammentreffens US-amerikanischer Eisenbahngesellschaften beim Bau der transkontinentalen Verbindung nachhaltig bestimmt hat, eine Fotografie, die das Zusammenstoßen der Lokomotiven zeigt. Das spätere Gemälde dieses historischen Ereignisses von Andrew J. Russel greift zwar einige Elemente der Fotografie auf, zeigt jedoch vor allem die Handlungsträger, eine Repräsentation des Ereignisses, die im kulturellen Bildrepertoire weniger präsent ist.
Außer der Perspektive auf Bezüge zwischen Fotografie und künstlerischen Bildern finden sich in dem Sammelband auch Texte, die anhand von künstlerischen Fotografien fotohistorische und fototheoretische Fragestellungen behandeln. Herbert Molderings widmet sich in seinem Aufsatz der Bedeutung surrealistischer Fotografie, die dem Glauben an das Potential der Fotografie, Realität in einem direkten Verhältnis abzubilden, eine Absage erteilt und den Zweifel an einer lediglich positivistischen Widergabe nährt. Stattdessen macht der surrealistische Charakter die Abhängigkeit des Fotos von bestehender Ikonografie deutlich. Im Werk von Man Ray, René Magritte, Raoul Ubac und Hans Bellmer zeigt Molderings auf, wie die surrealistischen Künstler die Verbindung zwischen Realismus und Fotografie untergraben. Durch Eingriffe in die chemischen Prozesse negieren die Künstler den abbildenden Charakter der Fotografie und schaffen stattdessen einen Imaginationsraum.
Der in den Artikeln auszumachende Fokus auf die Fotografie im Kontext anderer Medien und Motive führt zu Ergebnissen, die ganz unterschiedliche Bereiche erhellen, beispielsweise die künstlerische Auffassung der gezeichneten Linie, des Porträts und der Skulptur. Durch seine Vielfalt der Gegenstände und Kontexte macht der Band deutlich, dass die gewählte Herangehensweise erst am Anfang steht. Als weiteres Arbeitsfeld wäre vor allem der Austausch von künstlerischen Bildern und wissenschaftlicher Fotografie seit dem 19. Jahrhundert denkbar. Vielversprechend ist auch die Fragestellung, in welchen Kontext die Fotografien gestellt werden müssen, die der Kunstgeschichte als Hilfsmittel für das vergleichende Sehen sowie für eine Geschichtsschreibung von Stilen, Epochen und Nationen dienen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu beispielsweise Michel Frizot (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998.
[2] Stellvertretend lassen sich folgende Publikationen nennen: Lars Blunck (Hg.): Die fotografische Wirklichkeit. Inszenierung, Fiktion, Narration, Bielefeld 2010; Peter Geimer: Theorie der Fotografie zur Einführung, Hamburg 2009; Peter Geimer: Bilder aus Versehen: eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg 2010; Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart 2010.
[3] Van Deren Coke: The Painter and the Photograph from Delacroix to Warhol, 1964; Aaron Scharf: Art and Photography, 1968; Otto Stelzer: Kunst und Photographie, 1966.
Silke Förschler