Rezension über:

Stefan Fischer: Hieronymus Bosch. Malerei als Vision, Lehrbild und Kunstwerk (= Atlas. Bonner Beiträge zur Kunstgeschichte N.F.; Bd. 6), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, 385 S., ISBN 978-3-412-20296-5, EUR 49,90
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Rezension von:
Erwin Pokorny
Institut für Kunstgeschichte, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Dagmar Hirschfelder
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Empfohlene Zitierweise:
Erwin Pokorny: Rezension von: Stefan Fischer: Hieronymus Bosch. Malerei als Vision, Lehrbild und Kunstwerk, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 10 [15.10.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/10/17556.html


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Stefan Fischer: Hieronymus Bosch

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Stefan Fischer unternimmt in seiner sehr ambitioniert geschriebenen Doktorarbeit den Versuch einer Klärung der rätselhaften Bildsprache des Hieronymus Bosch ('s-Hertogenbosch um 1450/55-1516 ebenda). Dazu setzt er primär auf die Analyse des soziokulturellen und geistigen Umfeldes des Künstlers. Indem er sehr genau Boschs Stellung als honoriger Bürger und geschworenes Mitglied der Marien-Bruderschaft in 's-Hertogenbosch umreißt, verleiht Fischer dem als Mensch so unbekannten Maler Kontur und Farbe. Interessant ist unter anderem die Annahme, Bosch hätte eine Tonsur getragen (allerdings korreliert dies nicht mit dem einzigen, nur in Kopien überlieferten Porträt, das den in die Jahre gekommenen Maler mit langem Haar zeigt). Fischers Konzept entspricht der Auffassung von Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. Fragen der Stilentwicklung, der Chronologie und der Eigenhändigkeit interessieren ihn weniger, weshalb seine Leser diesbezüglich keine neuen Thesen erwarten dürfen. Lediglich im zweiten Kapitel wendet sich Fischer stilistischen Fragen zu, während er sonst überwiegend Vergleiche zu anderen Disziplinen wie der Rhetorik, Poesie, Philosophie und Theologie zieht - was ihn zu durchaus plausiblen Schlussfolgerungen führt. So stelle etwa Boschs "Christophorus" in Rotterdam "ein Lehrbild mit einer moraldidaktischen und mystikpropädeutischen Auslegung dieses häufigen Themas" (347) dar.

Mit seiner betont akademischen Wortwahl wendet sich der Autor an einen sehr engen Leserkreis, was bei einer Dissertation nicht überrascht, aber doch schade ist. Ebenso zeigt sich die Bebilderung des Buches wenig geeignet, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, da die meisten der auf 40 Seiten zusammengedrängten 114 Schwarz-Weiß-Abbildungen viel zu klein gerieten, um Details erkennen zu lassen. Hier wäre der Autor gut beraten gewesen, die Zahl der Abbildungen zu reduzieren, d.h. weniger mehr sein zu lassen.

In der Einleitung skizziert Fischer sein Vorhaben dahingehend, dass nach der Untersuchung der Person Boschs und ihres Umfeldes "das Œuvre anhand einzelner - durchaus unterschiedlich innovativer - Werke systematisch analysiert und interpretiert" (15) werden soll. Das klingt vernünftig, macht jedoch stutzig: Wie sollte es möglich sein, dieses ziemlich heterogene Œuvre lediglich anhand einer kleinen Auswahl systematisch zu analysieren? Schließlich könnte selbst in der unscheinbarsten Kopie ein Hinweis versteckt sein, der die Forschung einen kleinen Schritt weiterbringt. Hier sei besonders an Boschs zeichnerisches Œuvre erinnert, welchem der Autor kaum Beachtung schenkt. Selbst wenn man Fischer zugute halten muss, dass eine Analyse des Gesamtwerkes den Rahmen einer Dissertation zweifellos sprengen würde, kann man ihm den Vorwurf der Fehleranfälligkeit seiner mehr am Geist als an sichtbaren Formen interessierten Methode nicht ersparen, etwa wenn er umstrittene Datierungen oder Zuschreibungen unreflektiert in seine Argumentation einfließen lässt. Dies ist bei den beiden bekanntesten Werken Boschs der Fall, dem Wiener Weltgerichtstriptychon (Akademie der bildenden Künste, Wien) und dem "Garten der Lüste" (Museo del Prado, Madrid). Letzterer zeigt im linken Flügel die Vermählung von Adam und Eva, weshalb Fischers Hypothese beizupflichten ist, das Triptychon wäre anlässlich einer Hochzeit in Auftrag gegeben worden (97f., 264ff.). Aber muss es sich, wie Fischer vermutet, um die Hochzeit des Nassauer Grafen Heinrich III. von 1503 gehandelt haben, bloß weil sich das Triptychon später in dessen Besitz befand? Stilistische Gründe sprechen vielmehr für eine Datierung in die 1490er-Jahre, zumal die Bosch-Forschung den "Garten der Lüste" bis vor wenigen Jahren stets früher ansetzte als die moderner und reifer wirkende "Anbetung der Könige" (ebenfalls im Prado), für die man lange Zeit eine Entstehung um 1510 annahm. Diese Datierung musste vor ein paar Jahren aufgrund schlagender Argumente bezüglich der dargestellten Stifterfamilie auf 1495-99 korrigiert werden. Nun möchte man meinen, dass diese nicht unerhebliche Vordatierung dazu Anlass gegeben hätte, die bisherige chronologische Ordnung von Boschs Gesamtwerk neu zu überdenken. Fischer bleibt jedoch bei der Datierung des "Gartens der Lüste" ins frühe 16. Jahrhundert und stützt sich dabei auf ein hybrides Phantasiegebilde in der Mitteltafel, das an die Samenkapsel einer aus Amerika eingeführten Gemshornpflanze erinnert (97). Da die Form aber ebenso gut von stilisierten Erbsenschoten oder Skorpionstacheln abgeleitet sein könnte, spricht nichts dagegen, den "Garten der Lüste" chronologisch wieder vor die "Anbetung der Könige" zu setzen. Eine Datierung um die Mitte der 1490er-Jahre verträgt sich außerdem mit der Annahme, der "Garten der Lüste" sei im Zusammenhang mit einer fürstlichen Hochzeit zu verstehen: So könnte auch der kunstsinnige Erbonkel und Vorgänger Heinrichs III., der Maximilian I. und Philipp dem Schönen treu ergebene Statthalter Engelbert II. Graf von Nassau-Breda, das Triptychon anlässlich der Hochzeit von Philipp und Johanna von Kastilien 1496 in Auftrag gegeben haben. Im Übrigen ist Fischers Deutung des Madrider Triptychons als eine Parodie des Paradieses zuzustimmen, aber keinesfalls seiner Meinung, es handle sich "nicht um ein fiktives, sondern ein historisches Geschehen, die Menschheit vor der Sintflut" (255). Weltgerichtsdarstellungen von Dirk Bouts und Simon Marmion sprechen dafür, dass Bosch sehr wohl eine Fiktion, nämlich das nach dem Jüngsten Tag erwartete irdische Paradies thematisierte bzw. parodierte.

Der "Garten der Lüste" und das Wiener Weltgerichtstriptychon gehören derselben Stilperiode an. Folglich bleibt Fischer aufgrund seiner späten Datierung des Madrider Altars bei der traditionellen Einordnung des "Weltgerichtes" um 1504. Diese Datierung basiert auf der gängigen Meinung, der Wiener Flügelaltar wäre mit jenem Weltgerichtstriptychon identisch, welches Philipp der Schöne einem erhaltenen Dokument zufolge 1504 bei Bosch in Auftrag gab (95f.). Allerdings stimmen weder die Maße überein, noch kann man ausschließen, dass Bosch mehr als nur ein "Weltgericht" gemalt hat. Darüber hinaus mutiert ein Argument, das Fischer für die Datierung um 1504 ins Feld führt, bei genauerer Betrachtung zum Gegenargument: Es betrifft die links unten in der Mitteltafel kniende, übermalte Stifterfigur, die erst vor wenigen Jahren unter Infrarotlicht zum Vorschein kam. Fischer vermutet in dieser Figur aufgrund ihres pelzverbrämten Mantels einen Fürsten und folglich Philipp den Schönen (96). Er übersieht aber, dass sich der Stifter auf der Weltgerichtstafel ohne Frau und Kinder darstellen ließ, was Philipp 1504 mit Sicherheit nicht getan hätte. Ebenso wenig überzeugt Fischers Argument, dass die Gesichtszüge eines jugendlichen Heiligen auf dem Wiener Triptychon an Bildnisse Philipps des Schönen erinnern, denn selbst wenn hier tatsächlich ein verkleidetes Porträt Philipps vorliegen sollte, muss dieser deshalb nicht der Auftraggeber gewesen sein.

In seinem Kapitel über Bildrhetorik und Invention präsentiert Fischer eine bemerkenswerte Entdeckung: Das Motiv einer Drolerie Boschs, in der das nackte Gesäß eines in einen großen Tragekorb gekrochenen Mannes zu sehen ist, lässt sich bis ins Hochmittelalter zurückverfolgen. Das aus dem Eremiten-Triptychon (Dogenpalast, Venedig) und einer Federzeichnung der Wiener Albertina bekannte Motiv findet sich bereits an einem byzantinischen Räuchergefäß aus dem späten 12. Jahrhundert (San Marco, Venedig), und auch dort im Kontext von Lasterdarstellungen (162). Die Entdeckung hochinteressanter motivgeschichtlicher Zusammenhänge sollte jedoch kein Grund sein, Fragen nach der Eigenhändigkeit zu vernachlässigen. So bleibt uns Fischer die Antwort schuldig, warum er die Albertina-Zeichnung einem Mitarbeiter oder Nachfolger Boschs zuschreibt (162). Offenbar folgt Fischer darin der Neuzuschreibung durch Fritz Koreny, obwohl er an anderer Stelle Korenys umstrittener These vom linkshändigen Bosch-Schüler durchaus skeptisch gegenübersteht (203f.). Übrigens ist der Korb dieser Drolerie eher ein Hopfenkorb als ein Bienenkorb, wie irrtümlich angenommen wird und daher auch Fischer zu falschen Deutungen verleitet.

Generell kann man Fischer vorwerfen, dass er in seinen Untersuchungen zu wenig vom Objekt ausgeht, bevor er dieses in den geistesgeschichtlichen oder sozialhistorischen Kontext stellt oder Parallelen zu Stilfiguren der Rhetorik und Poesie herausarbeitet. In diesen interdisziplinären Verknüpfungen liegt zweifellos die eigentliche Stärke Fischers, wenngleich sie ihn auch dazu verführen, sich zu weit vom Kunstwerk zu entfernen. Wenn er in der Zusammenfassung schreibt "Für Boschs Mischwesen ist es grundlegend, dass die Mischwesen-Ekphrasis aus dem Proömium der Ars Poetica des Horaz im Mittelalter moralischtheologisch gedeutet wurde" (348), kann dies wohl kaum als "neue Sicht auf das Bosch-Œuvre" (347) gewertet werden. Dass Bosch das Prinzip der Drolerie aus der Buchmalerei in die Tafelmalerei übertrug, ist schon lange bekannt. Nimmt man Fischers Buch jedoch als Ganzes, muss man seiner Herangehensweise sehr wohl Anerkennung zollen. Sie trägt in der essentiellen Feststellung, dass Bosch rhetorisch durchdachte Lehrbilder malte, mehr zum Verständnis des Malers bei, als rein kennerschaftlich auf Zuschreibung und Datierung reduzierte oder gar esoterische Methoden. Auch befreit Fischer den Blick auf Bosch von allerlei Vorurteilen. So wird die verbreitete, selten aber begründeten Meinung, dass Boschs düstere Bildinhalte auf eine pessimistische Weltsicht zurückzuführen sind, nach diesem Buch hoffentlich der Vergangenheit angehören.

Erwin Pokorny