Rezension über:

Matthew Biro: The Dada Cyborg. Visions of the New Human in Weimar Berlin, USA: University of Minnesota Press 2009, X + 319 S., ISBN 978-0-8166-3620-4, USD 29,50
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Rezension von:
Olaf Peters
Institut für Kunstgeschichte und Archäologien Europas, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Olaf Peters: Rezension von: Matthew Biro: The Dada Cyborg. Visions of the New Human in Weimar Berlin, USA: University of Minnesota Press 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 10 [15.10.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/10/17958.html


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Matthew Biro: The Dada Cyborg

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Der Dadaismus zieht weiter gehörige Aufmerksamkeit auf sich und erreicht dabei auch immer wieder ein Massenpublikum, wie zuletzt im Rahmen der großen Dada-Ausstellung, die 2005/06 in Washington und Paris zu sehen war. [1] Inzwischen sind nicht nur die einzelnen ProtagonistInnen der Richtung - also Marcel Duchamp, der frühe Max Ernst, George Grosz, Raul Hausmann, John Heartfield, Hannah Höch oder Kurt Schwitters - in zahlreichen monografischen Ausstellungen und wissenschaftlichen Studien gewürdigt worden. Auch die Berliner Gruppe selbst ist vor allem durch die beiden grundlegenden Studien von Hanne Bergius detailliert analysiert worden. [2] Matthew Biro tritt nun mit dem Versuch einer Neueinschätzung auf, insofern er weniger die formalen und politischen Radikalismen akzentuiert als er das neue Menschenbild der Berliner Dadaisten in das Zentrum seiner Ausführungen stellt.

Die zentrale Idee des Buches besteht in der Feststellung, dass die hybride Figur des Cyborgs grundlegend für die Kultur der Weimarer Republik gewesen und im Berliner Dadaismus, in einigen Stücken Georg Kaisers und Filmen Fritz Langs sowie Schriften Ernst Jüngers und Martin Heideggers anzutreffen sei: "the cyborg played a central role in many of Weimar culture's most significant productions." (1) Ja, Biro geht sogar so weit zu behaupten, dass das gegenwärtige Interesse am Berliner Dadaismus und dessen Aktualität sich diesem Interesse am Cyborg verdanke und ein neues Verständnis für die in der Weimarer Republik entwickelten Konzepte, Wahrnehmungen und Körperdiskurse ermögliche. Dabei würden sich die Interpretationen der Vergangenheit und der Gegenwart wechselseitig erhellen.

Das Buch ist klar aufgebaut und besteht aus fünf Kapiteln; dabei widmet es sich zunächst dem Berliner Dadaismus und seinen unterschiedlichen künstlerischen Praktiken allgemein - Biro will damit einer von ihm behaupteten Fokussierung der Forschung auf die formalen Innovationen des Dadaismus begegnen - dann in einer Einzeluntersuchung Hannah Höchs Hauptwerk Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche (1919/20), ferner Raoul Hausmann sowie dem Kriegskrüppel und militarisierten Cyborg, um dann schließlich mit Hannah Höchs Fotocollagen der modernen oder "Neuen" Frau zu enden. Allein hier fällt auf, dass die Analyse sehr auf das Lebens- und Künstlerpaar Hausmann/Höch zugespitzt ist und keineswegs der gesamte Berliner Dadaismus in den Blick gerät. Auch wenn weitere Hauptvertreter wie George Grosz mitunter kursorisch angesprochen werden - Biros Ansatz erweist sich als nur bedingt anwendbar.

Ein Kernproblem der Studien besteht in der Begriffsverwendung, wobei die hybride Figur des Cyborgs zum einen wesentlich älter als die dadaistische Kunst und zum anderen konzeptuell wesentlich jünger als der Berliner Dadaismus ist. Biro stützt sich auf zwei unterschiedliche theoretische Grundlegungen des Cyborgs, wenn er sich zum einen an Norbert Wiener, Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline - letztere definierten den Begriff erstmals 1960 als hybrides Mischwesen aus Mensch-/Tier-Maschine - und zum anderen an Donna Haraways sehr viel später entwickelten, feministisch-postmodernen Vorstellungen anlehnt. Der Begriff Cyborg existierte erstmals 40 Jahre nach dem Dadaismus, gerade aber die Interpretation der Vergangenheit vom theoretischen - freilich sehr offenen - Standpunkt der Gegenwart erscheint Biro als Königsweg seiner vor allem an Walter Benjamin angelehnten Vorgehensweise. Mit dem Berliner Dadaismus und dem Konzept des Cyborgs ergeben sich neue Sichtweisen auf das menschliche Dasein, seine Bedingtheit und zu hinterfragende, Identität stiftende Konzepte von Rasse, Geschlecht oder auch Klasse. Der Cyborg selbst fungiert als moderne hybride Identität, die kontingente und transgrediente Züge besitzt.

Dass Biro dabei die Methode einer invertierten Ikonologie anwendet, bei der der Forscher nicht den präexistenten Text zum Werk aufzufinden, sondern dieses mithilfe sehr viel später theoretisch entwickelter Modelle zu analysieren versucht, erscheint als stimmige Selbstbeschreibung. Der Wunsch nach einer methodisch stärker geregelten, weniger ausschweifenden historischen Kontextualisierung stellt sich aber bei der Lektüre des anregenden Buches unwillkürlich früh ein. Das zeigt sich immer wieder auch an untergeordneter Stelle, denn ob Martin Heideggers in Sein und Zeit (1927) entwickelter Begriff der 'Zuhandenheit' - dem Philosophen geht es in § 15 seines Hauptwerks u.a. um den praktischen und handelnden Umgang mit dem 'Zeug' - zum Beispiel mit dem Konzept des Cyborgs zu fassen ist, erscheint mir zweifelhaft. Und auch wenn Biro dieses konkrete Beispiel in einer Anmerkung nicht wirklich diskutiert, offenbart es ein ubiquitär erweitertes und konturlos zu werden drohendes theoretisches Modell, das eher skeptisch macht.

Matthew Biro hat ein intelligentes und wichtiges Buch zum Berliner Dadaismus verfasst, das zahlreiche neue Akzente setzt und viele richtige Einzelbeobachtungen anstellt. Gleichwohl begegne ich der Verwendung des uneindeutigen theoretischen Konstrukts des Cyborg mit einer Reserve, wird doch die Analyse einer spezifischen Modernität der Avantgarde der späten 1910er-Jahre vor dem historischen Hintergrund technischer Innovationen, politischer Umbrüche und der Erfahrung des Weltkriegs zu sehr mit Lesefrüchten des Cyborg-Diskurses nach 1960 vermischt, dessen jeweilige Spielart im Übrigen je nach Bedarf benutzt wird. Die zahlreichen Exkurse und die wenig tiefenscharfen, wenngleich informierten Werkanalysen - siehe exemplarisch das zweite Kapitel zu Hannah Höchs Schnitt mit dem Küchenmesser - vermitteln den Eindruck, dass eine effektvolle intellektuelle Idee, die durchaus heuristischen Wert besitzt, letztlich über die Kunst und ihren historischen und intellektuellen Kontext obsiegt - paradoxerweise obwohl der Autor enorm viel historisches Material heranzieht. [3] Es stört die Allgemeinheit der Begriffsverwendung, bei der ein moderner, teilweise von Georg Simmel abgeleiteter Subjektbegriff und das vage Konzept des Cyborgs in eins zu fallen und damit unspezifisch zu werden drohen.


Anmerkungen:

[1] Ausst.Kat. Dada - Zürich, Berlin, Hannover, Cologne, New York, Paris, hg. von Leah Dickman, Centre Pompidou Musée national d'art moderne Paris and National Gallery of Art, Washington D.C. 2005/06.

[2] Vgl. Hanne Bergius: Das Lachen Dadas. Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen, Giessen 1989 und dies.: Montage und Metamechanik. Dada Berlin - Artistik der Polaritäten, Berlin 2000.

[3] Eine instruktive Gegenposition bieten hier die von Biro nicht herangezogenen Aufsätze von Eberhard Roters, Fabricatio Nihili oder Die Herstellung von Nichts. Dada Meditationen, Berlin 1990.

Olaf Peters