Mariantonia Reinhard-Felice / Bundesamt für Kultur (Hgg.): Corot - L'Armoire secrète. Eine Lesende im Kontext. Katalog zur Ausstellung Winterthur, Sammlung Oskar Reinhart 'Am Römerholz', München: Hirmer 2011, 176 S., 60 Farbtafeln, 40 Farbabb., ISBN 978-3-7774-3421-6, EUR 34,90
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Die Sammlung Oskar Reinhart "Am Römerholz" in Winterthur hat zwischen Februar und Mai 2011 eine von der Presse allseits gepriesene, als "feinsinnig und zierlich" [1] beschriebene Ausstellung zu Camille Corots Figurenbildnissen gezeigt. Im Mittelpunkt der Kabinettausstellung stand das Gemälde "Lesendes Mädchen", das zu den eigenen Beständen der Sammlung zählt. Dieses signifikante Werk wurde in den Kontext verschiedener weiterer Schlüsselwerke Corots aus nationalen und internationalen Sammlungen und Museen gestellt. Erstmals seit 1962, als zuletzt der Louvre in Paris eine speziell diesem Themenkomplex gewidmete Schau präsentierte, sind gut 20 Figurendarstellungen des immer noch primär für seine Landschaftsgemälde bekannten Malers vereint worden. Auf diese Weise manifestiert sich nicht nur die große Relevanz des Lektürethemas innerhalb des Corotschen Œuvres, es wurde gleichzeitig auch ein repräsentativer Überblick über dessen künstlerische Produktion von Figurenbildnissen im Allgemeinen gegeben.
An dem begleitenden Katalog wirkten einige außerordentlich namhafte Wissenschaftler mit, die als Spezialisten der hier versammelten Themengebiete gelten dürfen. Neben dem zentralen Aufsatz zu Corots "Lesender", der von der Kuratorin und Herausgeberin Mariantonia Reinhard-Felice verfasst wurde, sind Beiträge von Vincent Pomarède, Oskar Bätschmann und Kerstin Richter vertreten.
Einleitend wird von Reinhard-Felice das Konzept der Ausstellung erläutert. Die Kuratorin weist darauf hin, dass in der Folge der Schau von 1962 im Louvre eine "entscheidende Aufwertung der Rolle Corots als Figurenmaler" (9) innerhalb der kunstwissenschaftlichen Literatur stattgefunden habe, dieser jedoch bei darauffolgenden Ausstellungsvorhaben kein weiterer Tribut gezollt worden sei. Reinhard-Felice macht darauf aufmerksam, dass die Relevanz der Corotschen Figurenbildnisse von der Kritik lange Zeit unterschätzt und als "belanglose Nebenbeschäftigung" betrachtet wurden. Corot, der sich der Öffentlichkeit als Landschaftsmaler präsentierte und damit bereits selbst in nicht unerheblicher Weise die Abwertung seiner Figurenmalerei beeinflusste, besaß seinem Biografen Alfred Robaut zufolge eine geheime Truhe, in der er die Figurenbildnisse verwahrte. Das Wissen um jenen angeblichen Geheimschrank habe in der Folge den Mythos einer "armoire secrète" angeheizt, derer sich der Künstler bediente, um geradezu "strategisch" ausgewählte Werke vor dem Publikum zu verbergen. Die Autorin stellt jedoch zu Recht heraus, dass es viele Anhaltspunkte dafür gebe, dass Corot sich mit Passion der Figurenmalerei gewidmet habe und auch die Resonanz auf dem Kunstmarkt entsprechend positiv ausgefallen sei. Die Wahl, die "armoire secrète" in den Titel der Ausstellung zu integrieren, habe man aus zweierlei Gründen getroffen: Einerseits seien die Figurengemälde nach langer Zeit der Abwesenheit nun zum ersten Mal seit knapp 50 Jahren wieder als eigenständiger Zweig künstlerischer Produktion sichtbar geworden, andererseits umgebe die Gemälde tatsächlich etwas Geheimnisumwobenes (9). Reinhard-Felice zeichnet ein anschauliches didaktisches Verfahren vor, nach dem die Ausstellung ausgearbeitet wurde - und in deren Kontext die Essays der mitwirkenden Wissenschaftler entstanden sind.
Vincent Pomarède, von dem der erste Aufsatz der Publikation stammt, ist Direktor des Département des Peintures am Musée du Louvre und gilt als ausgewiesener Kenner Corots. Der von Pomarède verfasste Essay analysiert in allgemeiner Form die Figurenbilder - im Besonderen die stilistischen Veränderungen, die der Maler im Laufe der Zeit durchlaufen hat sowie den Stellenwert, den dieser Schaffenszweig in seinem Gesamtœuvre einnimmt.
Pomarède, der gleichzeitig als kuratorischer Berater die Ausstellung entscheidend mitbeeinflusst hat, stellt seinen Ausführungen die Beobachtung vorweg, die Kunstgeschichte habe sich seit jeher schwer damit getan, das Corotsche Œuvre und insbesondere auch seine Figurendarstellungen klar zu entschlüsseln, weil dieses sich klaren Kategorien entziehe. Datierung und Zuschreibung würden nicht die "erwarteten strukturierenden Bezugspunkte bieten, mit denen man sonst operieren kann." (15) Corot habe seine Malweise in frappierender Form den jeweiligen Sujets und Bildthemen angepasst, sodass die traditionellen kunsthistorischen Analysemittel - wie etwa die Bestimmung des Duktus - in seinem Falle nicht griffen. Vor diesem Hintergrund bietet die Ausstellung in Winterthur für Pomarède endlich die Möglichkeit, "die Analyse von Corots Schaffen in eine ganz andere Richtung zu lenken." (16) Detailreich stellt der Kunsthistoriker die Entwicklungen Corots dar und vermittelt so einen profunden Eindruck vom Werdegang des Künstlers. Dennoch muss sich der Leser bei der Lektüre fragen, ob er die "ganz andere" Denkrichtung, die Pomarède einzuschlagen gedachte, aus Versehen überlesen hat. Der Autor scheint die Unwägbarkeiten in der Analyse geschickt umschifft zu haben: Nicht falsch, aber auch nicht bahnbrechend muten also Pomarèdes Schlussfolgerungen an, für Corot seien malerische Aspekte zum eigentlichen Bildinhalt geworden und es sei ihm um die "zeitlose Synthese, die Quintessenz aller Frauen" gegangen (35). In den späteren Figurendarstellungen habe Corot auf alles Erzählerische verzichtet und selbst den Realitätsbezug vernachlässigt, um sich einer "gefühlsbetonten, intellektualisierten Malerei zu widmen, welche die bildnerische Form immer stärker an subjektive Emotionen knüpfte." (37)
Auch Oskar Bätschmann diskutiert, ob Corot als "letzter 'klassischer' Maler oder als erster einer wie auch immer zu definierenden 'Moderne' einzuschätzen" (46) sei, fragt sich jedoch gleichzeitig, ob diese Definitionen mittlerweile noch Gültigkeit haben. Könne man die seit Paul Signac und Julius Meier-Graefe etablierte Mainstreamgeschichte der Kunst überhaupt noch rechtfertigen und die Corotschen Gemälde einfach als schöne Malerei abtun, die mit der zeitgenössischen Gesellschaft, den politischen und sozialen Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts nicht verbunden sei (46)?
Liest man Mariantonia Reinhard-Felices Aufsatz, der sich mit Corots Lesenden auseinandersetzt, so findet man eine indirekte methodologische Antwort auf die von Bätschmann im vorigen Essay aufgeworfenen Fragen. Reinhard-Felice stellt eine vorzügliche Analyse des Lektürethemas im 19. Jahrhundert vor, kontextualisiert somit Corots Lesende und weist den Zusammenhang zwischen Bildsujet und zeitgenössischen Geschlechterrollen sowie den Konsequenzen der Alphabetisierung breiter Schichten der Gesellschaft nach.
Der vierte Essay, geschrieben von Kerstin Richter, widmet sich dem Einsatz der fremdländischen, zumeist italienischen Kostüme in Corots Schaffen. Die Autorin gibt sehr überzeugend Aufschluss darüber, auf welche Weise Corot einzelne Elemente der Trachten betonte und sie für seine Kompositionen nutzbar machte. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erfüllen, dienten sie ihm dazu, starke Akzente zu setzen und die Figuren an signifikanten Stellen zu strukturieren, was oftmals entscheidend zur Abstraktion der Dargestellten beiträgt (81).
Komplettiert wird die Publikation von detaillierten Katalogeinträgen zu den 27 ausgestellten Werken, die rundum informativ und ansprechend aufgebaut sind und die das Niveau der Ausstellung auch im Nachhinein bewahren.
Anmerkung:
[1] Rose-Maria Gropp: Wie sich Camille Corot die Frauen ausmalte, in: FAZ-Feuilleton (05.04.2011).
Nele Martina Putz