David L. Cooper: Creating the Nation. Identity and Aesthetics in Early Nineteenth-century Russia and Bohemia, DeKalb, IL: Northern Illinois University Press 2010, 300 S., ISBN 978-0-87580-420-0
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Der Prozess der Nationsbildung und die Fragen der nationalen Identität bilden einen der zentralen Forschungsgegenstände der verschiedenen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Vor allem seit den Publikationen Benedict Andersons, Ernest Gellners und Eric J. Hobsbawms, die unabhängig voneinander 1983 veröffentlicht worden sind, kommt diesem Thema ein verstärktes Interesse zu. Aufgrund der wechselvollen neuzeitlichen Geschichte Osteuropas und insbesondere im Zuge der politischen Neuordnungen der letzten zwei Jahrzehnte stellt dieses Themenfeld ebenfalls einen bedeutenden Schwerpunkt der Osteuropawissenschaften dar, so dass seit den 1990er Jahren eine Fülle an einschlägigen Arbeiten veröffentlicht worden ist. Die besondere Bedeutung der Literatur als ein Identität stiftendes Instrumentarium wurde von der Forschung dabei wiederholt hervorgehoben. Die Rolle der Literatur für die Nationale Wiedergeburt der Tschechen haben u.a. Walter Schamschula und Vladimír Macura thematisiert. [1] Dennoch ist der unter Einfluss des Nation Building erfolgte Wandel der literarischen Landschaft bislang eher nachlässig behandelt worden. Diese Lücke versucht nun der US-amerikanische Slavist David L. Cooper zu schließen, der den infolge des Nationalisierungsprozesses stattgefundenen literarischen Wertewandel am Beispiel der russischen und tschechischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts nachzuvollziehen versucht. Besonders hervorzuheben ist dabei die gekonnte Verknüpfung von kulturhistorischen und literarischen Prozessen.
Die klar strukturierte Monografie beginnt mit einer konzisen Einleitung, in der Cooper seine Grundthese und Fragestellung im Kontext der bisherigen Forschungslage formuliert. Der Autor hebt hervor, dass Anfang des 19. Jahrhunderts ein gravierender Paradigmenwechsel im Bereich der Literatur stattgefunden habe und in der nachfolgenden Zeit nationale Qualitäten den zentralen Maßstab für die literarische Wertung gebildet hätten. Den Grund hierfür sieht er in einer allgemeinen Krise der Literatur, die mithilfe des Nationalisierungsprozesses überwunden werden sollte.
Den Transformationsprozess der Literatur und das Auftauchen der tschechischen beziehungsweise russischen Nationalliteratur betrachtet Cooper in elf übersichtlichen Kapiteln, die er in drei thematische Blöcke gliedert. Als Orientierungspunkte seiner Literaturgeschichte dienen ihm die Entwicklungen und Neuerungen im Bereich der literarischen Metadiskurse, des Gattungssystems, der Literatursprache, des Literaturbetriebs und der Prosodie, die er anhand von Schlüsseltexten nachzuzeichnen versucht. Bedauerlicherweise zitiert er die zentralen Textstellen jedoch überwiegend in der Übersetzung. Positiv zu bewerten ist hingegen der gelungene komparatistische Ansatz der Studie, die der russischen die vergleichsweise "kleine" tschechische Literatur gegenüberstellt. Trotz der soziokulturellen und graduellen Unterschiede ist der Vergleich gerechtfertigt, da sich in beiden Kulturen zur gleichen Zeit ähnliche Probleme und Tendenzen abzeichneten.
Der erste thematische Block Shifting Terms: Literature, Language, Culture führt in die - insbesondere um die künftige Ausrichtung der Literatursprache und des Stils geführten - Diskurse beider slavischen Literaturen ein, die Cooper im Zusammenhang mit den allgemeinen Tendenzen der Zeit sieht. Europaweit habe sich die Literatur neu orientieren müssen, da der Klassizismus aufgrund seiner Neigung zur Ahistorizität und der mangelnden Differenzierung von kulturellen Unterschieden (18) als ästhetischer Maßstab ausgedient hätte. Im russischen und tschechischen Fall kam zu Beginn des 19. Jahrhunderts zudem der Umstand hinzu, dass ihre literarischen Systeme vergleichsweise wenig entwickelt waren, so dass rege Debatten über die adäquate Erneuerung der Literatur geführt wurden. Die Nation als Basis einer neuen Ästhetik habe sich daher zweifach angeboten: Zum einen habe sie den Weg zur Modernisierung aufgezeigt und zum anderen sei sie dem Bedürfnis zur Akzentuierung des Eigenen entgegengekommen.
Im zweiten Block Translation and the National Literature fokussiert Cooper die Übersetzungsproblematik als einen zentralen, jedoch diffizilen Punkt innerhalb des Nationalisierungsprogramms. Am Beispiel der Übertragung des Volkslied- und Balladendiskurses sowie der um die Adaption der geeigneten Prosodie geführten Debatten zeichnet er den dabei erfolgten Balanceakt zwischen notwendigem, die russische und tschechische Literatur bereicherndem Kulturtransfer und adäquatem Transformationsprozess nach. Um die eigene Identität zu bewahren, wurde die Übersetzung in der Gestalt einer "blinde[n] Imitation" (115) abgelehnt und die Forderung nach einer an der eigenen Kultur orientierten Adaption postuliert.
Der abschließende Themenblock Terms in Conflict beleuchtet eingehender die teilweise in den vorausgehenden Kapiteln bereits angerissenen konzeptuellen Metadiskurse, die vornehmlich um die Aneignung der Begrifflichkeiten "Volk/Nation" und "Wohlklang" sowie um die Gestalt der klassischen und romantischen Dichtung kreisen und die literarische und nationale Ebene aufs Engste miteinander verknüpfen. Hieran schließt der Autor ein weiteres Kapitel an, in dem er die Rolle des Bildungswesens für die Verbreitung der neuen Konzepte herausstellt.
Die sorgfältig ausgearbeitete Studie, die über ein Literaturverzeichnis der relevanten deutsch-, englisch-, tschechisch- und russischsprachigen Arbeiten sowie über ein leserfreundliches Stichwortverzeichnis verfügt, schließt mit einem Fazit, in dem die wesentlichen Entwicklungen subsumiert werden. Zusammenfassend ist zu sagen, dass der Autor zwar bereits bekannte Diskurse aufgreift, sie jedoch neu kontextualisiert und damit einen neuartigen und produktiven Blick auf die Literaturgeschichte gewinnt. Des Weiteren zeigt er, dass der Kulturtransfer kein Zeichen der Inferiorität gewesen ist, sondern sowohl die russische als auch die tschechische Literatur eine souveräne Position innerhalb der europäischen Prozesse eingenommen haben. Insgesamt legt Cooper eine in sich stimmige Studie vor, die das Beziehungsgeflecht zwischen Literatur- und nationalem Identitätsdiskurs aus literaturwissenschaftlicher Perspektive aufzeigt, womit er einen anregenden Beitrag zur Identitätsforschung leistet.
Anmerkung:
[1] Walter Schamschula: Die Anfänge der tschechischen Erneuerung und das deutsche Geistesleben (1740-1800), München 1973; Vladimír Macura: Znamení zrodu. České narodní obrození jako kulturní typ [Zeichen der Geburt. Die tschechische nationale Wiedergeburt als Kulturtyp], 2., erweiterte Auflage, Jinočany 1995.
Anja Golebiowski