Tim Neu / Michael Sikora / Thomas Weller (Hgg.): Zelebrieren und Verhandeln. Zur Praxis ständischer Institutionen im frühneuzeitlichen Europa (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496; Bd. 27), Münster: Rhema Verlag 2009, 256 S., ISBN 978-3-930454-92-1, EUR 30,00
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Der Sammelband Zelebrieren und Verhandeln. Zur Praxis ständischer Institutionen im frühneuzeitlichen Europa geht auf eine Tagung zurück, die im März 2007 von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und dem Netherlands Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences (NIAS) in Wassenaar gemeinsam veranstaltet wurde. Der Band erschien in der Schriftenreihe des mittlerweile abgeschlossenen, an der Universität in Münster angesiedelten Sonderforschungsbereichs 496 "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution".
Die anzuzeigende Publikation ist mit dem Münsteraner Sonderforschungsbereich in mehrfacher Hinsicht verbunden. Zunächst ist sie als Fortsetzung des Sammelbandes Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? zu verstehen, den eine der Sprecherinnen des Sonderforschungsbereichs, Barbara Stollberg-Rilinger, als Beiheft 35 der Zeitschrift für Historische Forschung im Jahr 2005 herausgegeben hat. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger jedoch, der die Galerie der verschiedenen Forschungsansätze sowie der verschiedenen Themen der kulturgeschichtlichen Politikforschung weit öffnete, ist der vorliegende Sammelband deutlich spezifischer.
Der Band konzentriert sich auf die Epoche der frühen Neuzeit und widmet sich allein den ständischen Institutionen. Der Anspruch auf den europäischen Vergleich, den die Herausgeber in ihrer Einleitung erheben, wird durch die zwölf Beiträge allerdings nur unzulänglich eingelöst. Sie thematisieren die symbolischen sowie instrumentellen Funktionen, Praktiken und die daraus folgenden Konflikte des Reichstages, der ernestinischen Land- und Ausschusstage, die Landtage in Sachsen sowie die "landständischen Handlungssequenzen" in Hessen-Kassel. Der Analyse unterzogen werden die zeremonielle Visualisierung der "cara libertas" auf dem polnischen Sejm sowie die performative Konkurrenz zwischen dem Sejm und dem Rokosz. Ausführlich erklärt werden ferner die zwischen Tradition und Innovation oszillierenden repräsentativen Strategien der niederländischen Generalstaaten in ihrer zeremoniellen und diplomatischen Praxis sowie das ökonomische, soziale und symbolische Kapital, das sich durch Zeremoniell und durch Verfahren auf den kastilischen Cortes mehren ließ. Schließlich finden Beachtung die in ihrer Performanz asynchronen "Kommunikations-" und "Entscheidungskapazitäten" der eidgenössischen Tagsatzungen und zuletzt die verbindliche Entscheidungen kaum hervorbringenden, dennoch keineswegs sinn- und zwecklosen Verhandlungen landsässiger Ritterschaftskurien. Dass der Vergleich mit den skandinavischen Ländern, mit Frankreich, England und mit der Monarchia Austriaca ausbleibt - die Bemerkungen zu den Eröffnungszeremonien des englischen Parlaments sind nur flüchtig und Arno Strohmeyer thematisiert in seinem impressiven Aufsatz über die in den Erbhuldigungsverhandlungen geübte ars memoriae die Institutionen der österreichischen und ungarischen Stände gerade nicht -, ist bedauernswert. Ein mit Beiträgen zu diesen politischen Entitäten komplettierter Sammelband hätte eine in der Tat europäische Perspektive entfalten können.
Mit der Ausnahme von Strohmeyer, der in seinem Beitrag einen ideengeschichtlichen Weg geht, setzen sich die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes mit dem Hauptanliegen des Münsteraner Sonderforschungsbereichs auseinander, nämlich mit der Analyse der symbolisch-expressiven Formen von politischen Kommunikations- und Entscheidungsfindungsprozessen. Diese würden die jeweilige politische Ordnung nicht nur dar-, sondern auch herstellen, mehr noch, sie würden ihr ihren Sinn verleihen. Die meisten Autorinnen und Autoren schließen sich in ihren Auslegungen dem Münsteraner Forschungsansatz durchaus an, zwei gehen dagegen auf deutliche Distanz. So zeigt Albrecht Pius Luttenberger seine Skepsis gegenüber der konstituierenden Kraft des Symbolischen für die politische Verfassungsordnung. Selber sieht er im "zeichenhaften Handeln" lediglich ein Medium, das im jeweiligen Kontext des realpolitischen Handelns und im Dienst der jeweiligen Ordnungsvorstellungen eingesetzt werden konnte. "Die Semantik zeremonieller Symbolik", so meint er, "erweist sich je nach Konstellation beziehungsweise Handlungszusammenhang bis zu einem gewissen Grade [sic!] als verfügbar [sic!]. Ihre performative Validität erscheint vielfach kontextabhängig" (252). Im Gegensatz zu den Auslegungen Luttenbergers betrachtet Gabriele Haug-Moritz das Symbolische als den zentralen Punkt des "jeweilige[n] institutionelle[n] Ordnungsarrangement[s]" schlechthin (58): Die "affektive Begründung des institutionellen Geltungsanspruchs und Verschleierung institutionellen Dissenses [habe] die raison d'être der Existenz politischer Institutionen dar[gestellt]" (40). In ihrer Interpretation greift Haug-Moritz auf die Luhmannsche Legitimation-durch-Verfahren-Theorie sowie auf die Überlegungen Stollberg-Rilingers zurück. Sie radikalisiert diese noch und relativiert sie zugleich: Nicht im Symbolisch-Zeremoniellen und im Verfahren gründe die Legitimation der Institutionen und des politischen Handelns, sondern in deren Transzendierung, das heißt in der Transzendierung der Versammlungsöffentlichkeit (44). Somit relativiert Haug-Moritz von Grund auf eine der Hauptthesen, auf die sich der Sonderforschungsbereich 496 stützt, nämlich die der Autonomie des Verfahrens. Die anderen Autorinnen und Autoren des Sammelbandes pflichten ihr stillschweigend bei.
Nichtsdestotrotz sind die Beiträge insgesamt dennoch unter das "Label" des Münsteraner Sonderforschungsbereichs einzuordnen. Somit zelebriert dieser mit dem Band 27 seiner Schriftenreihe ein weiteres Mal seinen Forschungsansatz. Die für die moderne historische Forschung wesentlichen "Verhandlungen", sprich: die Überprüfung der Möglichkeiten der Erkenntnisfindung in der kritischen Auseinandersetzung verschiedener Paradigmata, bleiben dabei aus. Dies ist bemerkenswert, denn die genannte Distanz zu dem Münsteraner Forschungsansatz ist beachtlich. Dass die Herausgeber in ihrer Einleitung die kritischen Stimmen unbeachtet lassen beziehungsweise in ihren Ausführungen nicht an diese anknüpfen, zeugt entweder von einer seltenen analytischen Zurückhaltung oder von einem Desinteresse am wissenschaftlichen Diskurs selbst. Ob nun das eine oder das andere zutrifft, jedenfalls muss man es bedauern, denn die Kompetenz der Autorinnen und Autoren einzelner Beiträge des Sammelbandes hätte für eine solche Auseinandersetzung eine geradezu herausragende Chance geboten.
Darüber hinaus offenbaren die Herausgeber in ihrer Einleitung eine bemerkenswerte Fixierung auf die vom Münsteraner Sonderforschungsbereich vertretenen Konzepte. So überspannt ihre mit Nachdruck vorgetragene These, die ständischen Institutionen in der frühen Neuzeit seien primär symbolisch-zeremoniell orientiert gewesen (13-15, 19), den analytischen Bogen stark. Die Aufsätze des Sammelbandes unterstützen diese These nämlich nicht, auch wenn einige Autorinnen und Autoren das Gegenteil meinen. Ihre Beiträge machen allein in einer teilweise sehr präzise herausgearbeiteten Manier - hervorgehoben seien vor allem die Beiträge von Luttenberger, Haug-Moritz, Thomas Weller und Tim Neu - auf die große Bedeutung der symbolischen Kommunikation im frühneuzeitlichen politischen Handeln aufmerksam, die ihre eigene, von der instrumentellen Praxis beziehungsweise von der effizienten Entscheidungsfindung unabhängige Ratio hatte. Diese symbolische, ja sinnliche Rationalität der politischen Akteure hatte jedoch keineswegs den Vorrang vor der auf Effizienz der Verhandlungen gerichteten Rationalität, wie dies die Einleitung der Herausgeber suggeriert. Vielmehr weisen die Aufsätze auf eine nicht aufzulösende Verzahnung von symbolischen respektive sinnlichen, ferner rationalen, das heißt vom Verstand geleiteten sowie schließlich imaginären Postulaten des politischen Handelns hin, die in den ständischen Institutionen am Werk waren. In der systemtheoretischen Perspektive würde man diese Postulate ihrem Wesen nach als autonom bezeichnen. Mit anderen Worten, das politische Handeln in den ständischen Institutionen fand in der Lacanschen Trias des Realen, des Symbolischen und des Imaginären statt. Dass erst die Einheit aus Sinnen und Verstand zur Erkenntnis führt, könnte man ansonsten auch bei Kant nachlesen. Denn gerade um Erkenntnis der politischen Probleme, wenn schon nicht um ihre Lösung, ging es in den ständischen Institutionen stets. An den Belegen dafür ist der schmale Sammelband redundant.
All diese Monita sollen nicht den Blick von der Tatsache ablenken, dass es sich um einen Band mit wertvollen Beiträgen zur europäischen Verwaltungs- und Verfassungsgeschichte handelt. Ein Personen- und ein Sachregister wären willkommen gewesen. In seinem offenbar ungewollten Fazit, die Grenzen des aus dem Münsteraner Sonderforschungsbereich hervorgegangenen Konzeptes zur Erforschung der symbolischen Kommunikation in der Vormoderne aufgezeigt zu haben, liegt allerdings das größte Verdienst des Sammelbandes.
Sašo Jerše