Bärbel Kuhn / Holger Schmenk / Astrid Windus (Hgg.): Europäische Perspektiven im Geschichtsunterricht (= HISTORICA ET DIDACTICA. Fortbildung Geschichte; Bd. 2), St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2011, 163 S., zahlr. s/w Abb. und Schaubilder, ISBN 978-3-86110-488-9, EUR 19,80
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Mit den Europäischen Perspektiven im Geschichtsunterricht legt der Röhrig-Verlag den zweiten Band seiner vielversprechenden Reihe "Fortbildung Geschichte" vor. Wie schon bei den im vergangenen Jahr erschienenen "Weltgeschichtlichen Perspektiven" vereinigt der Band wissenschaftliche Beiträge mit konkreten Unterrichtsvorschlägen zu Themen, die die historischen Epochen von der Antike bis zur Zeitgeschichte umfassen. Verbunden sind die wissenschaftliche und die didaktische Ebene jeweils durch eine Auswahl von Quellen; diese sind den wissenschaftlichen Beiträgen beigegeben, bilden aber die Grundlage der jeweiligen Unterrichtsvorschläge.
Die Konzentration des Bandes auf europäische Perspektiven lässt sich gut begründen. Die Herausgeber, aber auch einige der übrigen Autorinnen und Autoren verweisen auf die Verankerung eines europäischen Anspruchs in den Lehrplänen, auf politisch aufgeladene Debatten zur europäischen Identität beim Thema EU-Erweiterung sowie auf die Sorge, die europäische Dimension drohe im Unterricht zwischen traditionellen nationalgeschichtlichen und neuen globalgeschichtlichen Ansatzpunkten aus dem Blick zu geraten. Gemäß dem Reihenkonzept strebt der Band nicht danach, eine in sich geschlossene Unterrichtseinheit für einen Längsschnitt zur europäischen Geschichte zu bieten. Vielmehr suchen die Autorinnen und Autoren im Rahmen der bestehenden Unterrichtsschwerpunkte nach Anknüpfungspunkten für europäische Perspektiven.
Diese drängen sich im Fall der Alten Geschichte geradezu auf, stammt doch bereits die Bezeichnung des Kontinents aus der antiken Mythologie. Das antike Erbe Europas steht daher im Zentrum eines Unterrichtsvorschlags, der neben der Europa-Sage vor allem die Tradition des römischen Rechts behandelt. Für das Leben der Juden im Mittelalter betont Jens Aspelmeier die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen": Ausgrenzung und Verfolgung auf der einen Seite, friedliches Zusammenleben auf der anderen. Der Unterrichtsvorschlag konzentriert sich dennoch auf die Verfolgung, um einen epochenübergreifenden Unterricht zu Kontinuitäten und Wandlungen antijüdischer Stereotype anzuregen.
Besonders anregend sind die Materialien zur Frühen Neuzeit. Die europäische Identität wird aus der Perspektive lateinamerikanischer Quellen thematisiert. An diesen lässt sich das Bewusstsein für Veränderungen entwickeln, die sich bei der Wahrnehmung eines Phänomens durch die interkulturelle Aneignung vollziehen. Die Materialien zeigen aber auch, wie Idealisierungen enttäuscht werden können, sobald eine reale Begegnung stattfindet - in diesem Fall durch Reisen der lateinamerikanischen Autoren nach Europa.
Das Themenfeld Wissen steht auch im Mittelpunkt der Unterrichtseinheit zum 19. Jahrhundert. Sie präsentiert die Weltausstellungen als Ort, der das Wissen der Menschen voneinander prägte. Angela Schwarz arbeitet heraus, wie Inszenierungs- und Wahrnehmungsprozesse auf den Ausstellungen das Selbst- und Fremdbild Europas formten. Die Materialien erlauben zudem die Reflektion über die soziale und kulturelle Dimension eines Ausstellungsbesuchs, der als Möglichkeit beworben wurde, die ganze Welt an einem Ort kennenlernen zu können.
Rein quantitativ dominieren Unterrichtsvorschläge zu Themen des 20. Jahrhunderts. Eine Einheit zu Polen bietet die willkommene Gelegenheit, den im Geschichtsunterricht häufig vernachlässigten östlichen Nachbarn ins Blickfeld zu rücken. Ausgangspunkt der Einheit ist eine Karikatur, die den Hintergrund von Stereotypen über die "polnische Wirtschaft" in der Ablehnung der Regelungen des Versailler Vertrags aufzeigt. Besonders verdienstvoll an der Einheit ist es aber, über das deutsch-polnische Verhältnis hinaus eine breitere europäische Einordnung vorzunehmen, indem Polens problematische Beziehung zur UdSSR der Stalin-Zeit in den Entwurf integriert ist.
Gleich vier Beiträge sind den Olympischen Spielen von 1936 gewidmet. Neben der unverzichtbaren Einheit über die Instrumentalisierung der Spiele durch das NS-Regime stehen zwei bilingual ausgerichtete Unterrichtsvorschläge, die die französische bzw. britische Rezeption der Spiele untersuchen. Sie verdeutlichen die Bedeutung, die die Inszenierung der Spiele als Friedensfest für die internationale Wahrnehmung Deutschlands hatte. Damit leisten sie einen Beitrag dazu, den Schülerinnen und Schülern verständlich zu machen, wie das NS-Regime seine wahren Ziele gegenüber dem Ausland verschleiern konnte.
Zu Recht wirft Jan Kusber in seinem fachwissenschaftlichen Beitrag die Frage auf, worin europäische Perspektiven im Geschichtsunterricht angesichts der vielfältigen historischen Traditionen innerhalb Europas überhaupt bestehen können. Der vorliegende Band beansprucht nicht, diese Frage umfassend zu beantworten. Die Zusammenstellung der Beiträge zeigt aber das Bestreben, nicht nur den lateinisch geprägten Süden und Westen des Kontinents zu berücksichtigen, sondern auch das im Schulunterricht oft vernachlässigte Osteuropa. Thematisch dominieren Beiträge zu Konflikten und Verfolgungen, während Europa weniger als Ort eines gedeihlichen Zusammenlebens präsentiert wird. Eine Verstärkung dieser Perspektive wäre didaktisch ebenfalls wünschenswert; der Praxistauglichkeit des Bandes für den Schulunterricht hätte ein solcher Ansatz allerdings eher geschadet, denn leider ist auch dort europäische Geschichte vornehmlich als Konfliktgeschichte präsent. Umso mehr ist zu begrüßen, dass für diese unzweifelhaft zentralen Problemfelder gut ausgewähltes Arbeitsmaterial zur Verfügung gestellt wird, das vielfältige Anknüpfungspunkte in den Lehrplänen findet.
Die Aufteilung des Bandes in fachwissenschaftliche Beiträge und Unterrichtsvorschläge ist sachlich überzeugend, erfordert aber gelegentlich einiges Blättern, um zum jeweiligen Thema Fachbeitrag, Materialien und Unterrichtsentwürfe zusammen in den Blick zu nehmen (so sind z.B. die Zusatzmaterialien zu modernen Judenstereotypen nicht leicht zu finden). Vielleicht wäre die Bildung thematischer Blocks ja eine plausible Gliederungsalternative gewesen? Wichtiger als solche Fragen der Anordnung ist allerdings die Qualität der Materialien: Hier erlaubt es gerade die ausführliche Erläuterung der Bild- und Textquellen, diese auch unabhängig von den vorgeschlagenen Entwürfen rasch und kompetent im Unterricht einzusetzen. Damit bietet der Band in der Tat die praktische Chance, europäische Perspektiven im Unterricht zu verstärken.
Detlev Mares