Rezension über:

Heinz Dieter Kittsteiner: Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618-1715, München: Carl Hanser Verlag 2010, 446 S., ISBN 978-3-446-23580-9, EUR 29,90
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Rezension von:
Bernd Klesmann
Deutsches Historisches Institut, Paris
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Bernd Klesmann: Rezension von: Heinz Dieter Kittsteiner: Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618-1715, München: Carl Hanser Verlag 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 1 [15.01.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/01/19873.html


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Heinz Dieter Kittsteiner: Die Stabilisierungsmoderne

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Das vorliegende Buch ist das erste einer Reihe von ursprünglich sechs geplanten Halbbänden, die eine Gesamtdarstellung der deutschen und europäischen Geschichte von 1618 bis 1945 bilden sollten. Der unerwartete Tod des Autors im Juli 2008 hat diesem Projekt jedoch ein vorzeitiges Ende gesetzt, so dass die Studie zur 'Stabilisierungsmoderne' nur erahnen lässt, was noch hätte folgen können. Ein einführender Essay von Jürgen Kaube würdigt Originalität und Bedeutung des unvollendeten Lebenswerks, ein anschließendes Vorwort des Autors, wenige Wochen vor seinem Tod verfasst, erläutert Anlage und Entstehungskontext des Buches.

Die 'Stabilisierungsmoderne' bis etwa 1780 sollte ursprünglich in fortlaufender Darstellung ergänzt werden durch eine 'Fortschrittsmoderne' (Die gebändigte Revolution 1780-1830 / Das unbändige Kapital 1830-1883) und schließlich eine 'Heroische Moderne' (Gegen den Strom 1880-1916 / Die letzten Tage der Menschheit 1916-1945). Es geht also um nicht weniger als die Grundlagen und Initialphasen des europäischen Modernisierungsprozesses, der in Anlehnung an Theodore K. Rabbs Struggle for Stability in Early Modern Europe (1975) zunächst in der Perspektive einer 'Stabilisierungsmoderne' betrachtet wird, das heißt in einer Phase der Durchsetzung und Konsolidierung eines fundamental gewandelten Welt- und Gesellschaftsbildes.

Die konkreten Blickwinkel der Darstellung ergeben sich dabei aus der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und der im Westfälischen Frieden erfolgten Überwindung des Konfessionskrieges, aus der Entwicklung der Kosmologie und Astrophysik von Kopernikus bis Newton sowie aus den Gedankenwelten von Pietismus und Frühaufklärung. Mitreißend und doch quellenkritisch kontrolliert erzählt der Autor vom Leben so unterschiedlicher Persönlichkeiten wie des schreibenden (und von Jan Peters wiederentdeckten) Söldners Hagendorf, des schwäbischen Schusters und Chronisten Heberle (nach der Edition von Gerd Zillhardt) oder verschiedener Opfer, Täter und schließlich siegreicher Kritiker der deutschen Hexenprozesse. Neben diesen teilweise mikrohistorisch verorteten Schwerpunkten werden die Lebenswelten und Innovationsleistungen großer Wissenschaftler und Philosophen, etwas seltener auch diejenigen der Denker und Akteure des politischen Lebens geschildert. So sind es in der Darstellung Kittsteiners zwar nicht ausschließlich die "großen Männer", schon gar nicht die Mächtigen unter ihnen, die eine Stabilisierung der neuzeitlichen Rationalität herbeiführen, wohl aber zunächst individuelle Spitzendenker einer neuartigen kritischen Wissenschaft wie Kepler, Galilei oder Leibniz, deren Erkenntnisse erst langsam, mit Hilfe von "Populisatoren" (204) wie Bayle, in breitere Kreise vordringen können.

Als religions-, literar- und mentalitätshistorische Illustrationen fungieren an verschiedenen Stellen unkommentiert abgedruckte Dichtungen, etwa von Luther, Ignatius von Loyola, Gryphius und anderen, sowie zahlreiche Abbildungen. Der großen, übergeordneten Bedeutung des behandelten Themas entsprechen Exkurse in die Geschichte des 16. Jahrhunderts ("Lutheraner und Protestanten", "Reformkatholizismus", "Calvinismus") oder gar in die Entstehungszusammenhänge des Islam im 7. Jahrhundert, sowie eine allgemein sehr selbstverständliche Einbeziehung bedeutender Vorgänge auch außerhalb Deutschlands (vom Tridentinum und Schwedens Aufstieg zur Großmacht über die gesamteuropäische kleine Eiszeit bis zur Entdeckung der chinesischen Kultur), denn: "Das geht gar nicht anders, und es ist auch nie anders gegangen" (24).

Das Buch besticht durch die Erzählkunst des Autors und seine Fähigkeit, sehr heterogenes Material zu einer großen Entwicklungsgeschichte zusammenzufügen: ein "grand récit" ohne Dogmatismus, dafür mit Liebe zum Detail und Interesse für die Akteure im Schatten und Halbschatten der Geschichte. Angesichts des Anspruchs der Erklärungsleistung lassen sich allerdings auch Einwände denken, vor allem im Bereich der politischen Geschichte und der Sozialgeschichte: Ob etwa die Staatenwelt Mitteleuropas nach 1648 wirklich so "stabil" war wie die sich allmählich durchsetzende Vorherrschaft des heliozentrischen Weltbildes, kann mit Recht bezweifelt werden, wie das letzte Kapitel zu Türkenkrieg und spanischer Erbfolge auch nahelegt. Ob und wie soziale Ordnungen in Stadt und Land sich im untersuchten Zeitraum "stabilisierten", darf gefragt werden, nicht nur vor dem Hintergrund der bevorstehenden Ära der Revolutionen (die freilich wiederum in eigenen Bänden behandelt werden sollte).

Der primär ideengeschichtliche Schwerpunkt des Buches, in welchem sich die philosophischen Anschauungen und Wertungen des Autors verdichten, prägt vor allem die beiden zentralen Kapitel (137-278) zur Durchsetzung des neuen "Weltbildes" jenseits von Magieglauben, Kometenfurcht und dem "Gott des Zornes und der Plagen" (221). Wo Ranke von der Unmittelbarkeit der Epochen zu Gott sprach, geht es Kittsteiner zunächst um die Kontextualisierung der historischen Generationen innerhalb der mentalen Voraussetzungen ihrer jeweiligen Epoche, an die sie sich gleichsam "angekettet" finden (28) und die allein daher die besondere Aufmerksamkeit der Nachwelt verdienen. Leider wird es nicht mehr möglich sein, die Ausblicke des Autors über das 18. Jahrhundert hinaus im Detail nachzuvollziehen.

Kittsteiners Vorwort jedenfalls klingt aus in einem nachdenklichen Plädoyer für eine immer auch gegenwartsorientierte Geschichtsschreibung inklusive einer verhaltenen Apologie der "Bildung" angesichts einer "Allgegenwart der Unbildung" (32) sowie nachsichtig-ironischer Anteilnahme für Ciceros vieldiskutiertes Wort von der Geschichte als "Magistra Vitae" und das Streben des Geschichtsschreibers nach "Weisheit" (33).

Bernd Klesmann