Rezension über:

Fabian Schulz: Die homerischen Räte und die spartanische Gerusie (= Syssitia - Studien zur Geschichte und Kultur Spartas und Sparta-Rezeption; Bd. 1), Düsseldorf: Wellem Verlag 2011, X + 311 S., ISBN 978-3-941820-06-7, EUR 49,00
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Rezension von:
Oliver Grote
Bielefeld Graduate School in History and Sociology, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Sabine Panzram
Empfohlene Zitierweise:
Oliver Grote: Rezension von: Fabian Schulz: Die homerischen Räte und die spartanische Gerusie, Düsseldorf: Wellem Verlag 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 1 [15.01.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/01/20762.html


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Fabian Schulz: Die homerischen Räte und die spartanische Gerusie

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Wie bereits der Titel andeutet, gliedert sich Fabian Schulz' Dissertation vornehmlich in zwei Teile: Auf die kurze Einleitung (1-4) folgt in Kapitel eins eine Untersuchung der homerischen Ratsversammlungen (5-89), bevor sich der Verfasser in seinem umfangreicheren zweiten Kapitel der spartanischen Gerusie widmet (91-247). Sein abschließender Vergleich der beiden Ratsversammlungen fällt demgegenüber sehr knapp aus (249-262). Neben einer - ebenfalls recht kurzen - Bibliographie und einem Register mit Stellenverzeichnis bietet das Buch einen Anhang, in dem Zusammenfassungen der drei Hauptkapitel in deutscher und englischer Sprache geboten werden (277-291).

Das Erscheinen dieses Buches ist unbedingt zu begrüßen, weil eine systematische Studie zur spartanischen Gerusie bislang fehlte. Aufgrund der lobenswerten Akribie des Verfassers, alle verfügbaren Quellen zu würdigen und beinahe jeden denkbaren Aspekt des Themas zu untersuchen - auch einige bisher vernachlässigte Gesichtspunkte wie etwa das Gewicht familiärer Bindungen innerhalb der homerischen Räte (82-86) oder diplomatische Aufgaben der Gerusie (220-229) -, ist ein nützlicher Leitfaden zur Beschäftigung mit den homerischen und spartanischen Räten entstanden. Dennoch sollen einige Schwächen der Arbeit nicht verschwiegen werden.

Die Studie zur homerischen Ratsversammlung leidet unter mangelndem Rückbezug auf die Forschung. Zwar kündigt der Verfasser bereits in seiner Einleitung an, seine "Auswahl der wichtigsten Literatur" sei "notwendigerweise subjektiv" (3); dass dies im Einzelnen aber bedeutet, auf eine kritische Würdigung der Forschung beinahe gänzlich zu verzichten, kann schwerlich zufriedenstellen: Wichtige Beiträge von Andreev, Donlan, Gschnitzer oder Raaflaub bleiben gänzlich unberücksichtigt. Ein weiteres Problem stellt die unkritische Nutzung der Belegstellen aus den Epen dar: Durchweg zieht Schulz alle von Homer beschriebenen Ratsversammlungen zur Rekonstruktion der Boule heran, auch wenn einige solcher Räte sicherlich nicht mit ihren historischen Pendants zu vergleichen sind - beispielsweise die Versammlungen der Götter.

Es ist kaum verwunderlich, dass diese Art des Zugriffs zuweilen zu problematischen Ergebnissen führt. Exemplarisch sei auf Abschnitt 1.5.7 hingewiesen, in dem Schulz die Spannungen zwischen dem (zuvor zu Recht betonten) Konsensprinzip der Boule und der Entscheidungsgewalt des Basileus untersucht (66-69). Ohne hier oder an einer anderen Stelle der Arbeit auf die vieldiskutierte Frage einzugehen, ob es sich bei den homerischen Basilees um wirkliche Monarchen handelte, geht Schulz von einer souveränen Monarchie als Grundordnung der homerischen Gesellschaft aus. Den hierdurch aufgeworfenen Widerspruch kann er nicht auflösen: Der Abschnitt schließt mit der Feststellung, dass ein König nicht an die Regeln des Konsenses gebunden war und diese verletzen konnte, aber dadurch zu einem "schlechten König" (69) wurde. Dass ein souveränes Königtum nur an manchen Stellen der Epen aufscheint und der Dichter es möglicherweise aus dramaturgischen oder archaisierenden Gründen eingebaut haben könnte, erwägt Schulz leider nicht.

Seine Stärken hat das Buch vor allem im philologischen Bereich. Hier ist vor allem auf den Abschnitt über die Große Rhetra und Tyrtaios hinzuweisen (141-155). Schulz findet beispielsweise einige plausible Argumente für die schon von anderen Forschern [1] geäußerte, aber nicht unumstrittene These, dass es sich bei den "Männern des Volkes" in der Eunomie des Tyrtaios um die Ephoren handelt (150f.). Weniger überzeugend ist allerdings sein Versuch, die korrupte Stelle der Rhetra zu heilen: Nicht das Volk habe bindende Kraft, wie bisher vermutet wurde, sondern "der Antrag". Schulz muss hierfür nicht nur bereits in der vorangegangen Bestimmung in den Text eingreifen, sondern auch hinnehmen, dass die Bindung des Zusatzes an die Rhetra zerstört wird: Das getilgte kratos des Volkes kann nicht mehr als Voraussetzung für die im Zusatz angesprochenen "schiefen Sprüche" des Volkes dienen, die nun unverständlich bleiben. Außerdem ignoriert seine Konjektur die augenscheinliche Parallelität der entsprechenden Tyrtaios-Stelle.

Als zentrale These des Buches kann wohl Schulz' Einschätzung der Gerusie als mächtigste Institution des spartanischen Staates gelten (157; 216; 281). Hiermit widerspricht er einem Großteil der althistorischen Forschung, teile aber nach eigener Aussage (139; 157) das Urteil der antiken Autoren. Dass Xenophon (Lakedaimonion Politeia 10,2f.) - einer der wenigen Gewährsmänner, die Sparta nicht nur von außen beurteilten - und Plutarch (Lykurg 26,2) die Bedeutung der Gerusie ausschließlich in ihrer Funktion als Gericht vorstellen, unterschlägt der Verfasser bei seiner Einschätzung der Quellen allerdings (139f.). Schulz' Argumente für eine große Machtfülle des spartanischen Ältestenrats schlagen denn auch nicht durch. Wie er herausstellt (155f.), oblag der Gerusie die Nomophylakie - ob diese Vorstellung wirklich zutrifft, ist fraglich. Hieraus aber politische Kompetenzen abzuleiten (157), ist sicherlich verfehlt, da Nomophylakie ausschließlich strafgerichtliche Aufgaben umfasste. Und selbst wenn politische Einflussmöglichkeiten der Gerusie durch ihre richterlichen Befugnisse entstanden wären, bleibt die Feststellung, dass sie vom Ephorat abhängig war, und zwar nicht nur als Königsgericht, wie Schulz glaubt (163), sondern generell. Dies zeigt sich vor allem in der durch Xenophon (Hellenika, 3,3,8-11) überlieferten Kinadon-Affäre: Die Ephoren entschieden sich dafür, die Geronten nicht zusammen als Gremium, sondern einzeln aufzusuchen, konnten also die Gerusie nach eigenem Ermessen einberufen oder dies unterlassen. Überhaupt wird im gesamten Verlauf der Affäre - von den ersten Untersuchungen bis zur Verurteilung - nur das Ephorat als aktiv handelndes Gremium genannt. Anscheinend war die Gerusie also gar nicht für alle Arten von Prozessen zuständig, was der Verfasser aber behauptet und an Beispielen zu belegen versucht (163-165): Beim Prozess gegen Gylippos und dem daraus resultierenden Geldverbot (Plutarch Lysander 17) sind es die Ephoren, die den Gesetzesantrag einbringen und anschließend auch darüber beraten. Eine Beteiligung der Gerusie folgert Schulz wenig plausibel allein daraus, dass Plutarch diejenigen, die sich für das Geldverbot aussprechen, die "Verständigsten der Spartiaten" nennt, die mit den Geronten zu identifizieren seien. Genauso wenig überzeugt sein zweites Beispiel: Plutarch (Lysander 19,4) berichtet, wie der Spartaner Thorax von den Ephoren aufgrund eines Verstoßes gegen das Geldverbot hingerichtet wurde. Ohne Begründung hält es Schulz für möglich, dass dies "eine verkürzte Version für 'die Ephoren ließen ihn von der Gerusie verurteilen'" sei (164). Da die Ephoren richterliche Befugnisse besaßen (Xenophon Lakedaimonion Politeia 8,4), gibt es keinen Grund, hier eine nicht genannte, aber implizit mitgedachte Beteiligung der Gerusie anzunehmen. Auch im Bereich der Rechtsprechung war die Gerusie also gezwungen, mit den Ephoren zusammenzuarbeiten, ihre Machtfülle zumindest eingeschränkt. Ihr politisches Gewicht ist noch geringer einzuschätzen, wie Schulz selbst zugesteht (212); die Bewertung der Gerusie als äußerst machtvolle Institution geht also deutlich zu weit. Möglicherweise ist diese Tendenz des Autors auch seiner mangelnden Trennschärfe geschuldet, mit der man Entscheidungen der Gerusie als Gremium und Aktivitäten einzelner Geronten unterscheiden sollte.

Überzeugend arbeitet Schulz hingegen die Funktion der Gerusie für die Gesetzgebung sowie für außen- und innenpolitische Entscheidungen heraus. Die Bedeutung des Ältestenrates zeigt sich vor allem im Vetorecht gegen Beschlüsse des Volkes sowie in der Probouleusis für die Volksversammlung, die dann ihrerseits für die Ratifizierung der Anträge zuständig war (200f.; 209; 211). Mit dieser Rekonstruktion des Beschlussverfahrens wendet sich der Verfasser mit Recht gegen die von anderen Forschern vertretenen drei- oder vierstufigen Verfahren mit einer doppelten Beratung der Gerusie, da Volksversammlungen überliefert sind, in denen direkt nach den gehaltenen Reden, also ohne erneute Beratung abgestimmt wurde (Thukydides 1,67-87; Aischines 1,180f.). Unverständlich bleibt allerdings, warum Schulz nur wenig später erklärt, Ephoren und Geronten "konnten sicherlich ohne die Volksversammlung entscheiden", letztere habe "vielleicht umgangen werden können" (213).

Trotz der angesprochenen inhaltlichen und methodischen Probleme bleibt festzuhalten, dass das Buch aufgrund des quellenorientierten Zugriffs und der vollständigen Behandlung des Themas vor allem für die Spartaforschung eine Bereicherung darstellt. Möglicherweise hat das Werk als Hilfsmittel für die Lehre oder eigene Forschungen sogar einen noch höher einzuschätzenden Wert.


Anmerkung:

[1] M. Nafissi: La nascità del kosmos, Neapel 1991, 115f.; S. Link: Das frühe Sparta, St. Katharinen 2000, 19-30.

Oliver Grote