Heinrich Bosse / Otto-Heinrich Elias / Thomas Taterka (Hgg.): Baltische Literaturen in der Goethezeit, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, 508 S., ISBN 978-3-8260-3617-0, EUR 39,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Konrad Maier (Hg.): Nation und Sprache in Nordosteuropa im 19. Jahrhundert, Wiesbaden: Harrassowitz 2012
Die Rezeption der Aufklärung im Baltikum hatte ebenso wie andernorts einen fundamentalen Wandel des Menschenbildes zur Folge und das Potenzial, die Gesellschaftsordnung grundlegend zu ändern. Die politischen Folgen reichten tatsächlich bis zur Ausbildung der Nationalstaaten im Baltikum im 20. Jahrhundert.
Der zu besprechende Band versammelt 14 Beiträge von Autorinnen und Autoren aus Estland, Lettland und Deutschland, die sich mit Spuren und Auswirkung der Aufklärung in Prosa, Lyrik, Presse- und Theaterwesen, Verlags- und Übersetzungstätigkeit befassen. Die Aufsätze bewegen sich zwischen Literatur- und Kulturgeschichte und weisen häufig stark biografische Bezüge auf. Der Band ist nicht weiter untergliedert, zu unterschiedlich sind die Themen, die 2006 auf einer Tagung in Riga präsentiert wurden. Sie beruhen auf Quellen- und/oder Literaturstudien. Einige bieten detaillierte Basisinformationen bis hin zu Quelleneditionen, andere gehen über Projektskizzen kaum hinaus; einzelne aber stellen grundlegende Thesen zur Bewertung der baltischen Nationalliteraturen auf, die wichtige Anstöße zur weiteren Forschung bieten.
In ihrem sehr gelungenen Beitrag zur Themenstruktur von Zeitschriftenartikeln untersucht Aiga Šemeta deutschsprachige Periodika in Livland und Kurland. Dieser Versuch, eine Öffentlichkeit aufzubauen, hatte nur zum Teil eine dezidiert politische Zielrichtung. Sie äußerte sich in den Gelehrten Beiträgen, die, wie Šemeta herausstellt, zunächst einmal als Anreiz zum Kauf der Anzeigenblätter dienten. Meist handelte es sich um Wiedergaben aus anderen Zeitschriften, originäre Beiträge waren nicht namentlich gekennzeichnet. Das Themenspektrum deckte zu einem Drittel die Geschichte und zu einem weiteren Drittel naturwissenschaftliche, medizinische und landwirtschaftliche Themen ab, die übrigen Beiträge variierten zwischen philosophischen und religiös-moralischen Abhandlungen. Waren die Gelehrten Beiträge auf Ereignisberichte spezialisiert, so bot die Gattung der Meinungsblätter, zu der die Mitauische Monatsschrift zählte, viel Historisches, setzte sich aber auch mit Kernfragen der Zeit wie der Leibeigenschaft auseinander. Das Thema kam selbst in den Anzeigenblättern zu Sprache, nämlich dort, wo "Entlaufene Leute" gesucht wurden. Laut Šemeta fanden die Periodika eine mäßig interessierte Öffentlichkeit, obwohl auch Beiträge in lettischer Sprache erschienen.
Der einzige Beitrag zur Gender- bzw. Frauenforschung enttäuscht. In ihrem Aufsatz zu weiblicher Autorschaft in deutschbaltischen Zeitschriften greift Kairit Kaur zwar ein spannendes Thema auf, das sich mit ähnlichen Tendenzen im übrigen Russländischen Imperium und in Deutschland verbinden ließe, doch beschränkt sie sich im Wesentlichen auf die Problematisierung des Quellenmaterials und auf den Abdruck einiger Gedichte.
Dagegen kann Martin Klöker am Beispiel eines Trauergedichtes bereits auf die Ergebnisse des Projektes "Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums" bis 1800 verweisen, an dem er mitwirkte und das mehr als 6 000 Gedichte verzeichnet. Literarisch von zweifelhafter Qualität, sieht Klöker die Bedeutung dieser Gebrauchslyrik als "Knotenpunkt in diesem literarischen Netz" (79), nämlich dem gesellschaftsverbindenden Geflecht. Für die Literatur- und Gesellschaftsgeschichte ließe sich, so Klökers Ansatz, eine Zusammenstellung nach Region statt nach Gattung fruchtbar machen. Ähnliche Strukturen beschreibt Dirk Sangmeister in seinem ausführlichen Beitrag zu J.F.E. Albrecht als Verleger. Neben einer biografischen Skizze und der Rekonstruktion des Verlagsprogramms liefert er ein Plädoyer dafür, Gedichte als Belege für Freundschafts- und Bekanntschaftsnetzwerke zu betrachten (445 f.). Dies betraf in seinem Fall vor allem die Frau Albrechts, Sophie.
Stärker als gesamtgesellschaftliche Zugänge sind jedoch Themen zu einzelnen Persönlichkeiten, etwa Dichtern, Projektemachern und Übersetzern, vertreten. Sie füllen etwa zwei Drittel des Bandes. Herausragend ist die Untersuchung von Thomas Taterka, der die Konstruktion des blinden Indrik (Indrikis) als Begründer der lettischen Nationalliteratur nachzeichnet. Dessen in lettischer Sprache verfasste und an Letten gerichtete Anleitung zur Dichtkunst war nicht nur maßgeblich von Indriks Förderern, unter anderem Karl Elvers, beeinflusst; Taterka belegt zudem, dass die Stilisierung Indriks zum Vorbild von seinem Mentor gezielt betrieben wurde.
Die Spuren des August von Kotzebue als politischer Dichter in Reval verfolgt Otto-Heinrich Elias, insbesondere seine Kritik an der Leibeigenschaft. Mit Fragen der Identität beschäftigen sich Hans Graubner und Heinrich Bosse. Graubner zeichnet den Konflikt des Hofmeisters Johann Georg Hamann, der sich als "akademischer Bürger" verstand, mit der Mutter seines adligen Zöglings Woldemar Dietrich von Budberg über die schichtenbedingten Erziehungskonzepte nach. Bosse kommt bei der Analyse der national-religiösen Identität des sich als polnischen Juden vorstellenden Isaschar Falkensohn Behr zu dem Ergebnis, dass dessen Selbstbilder wie auch die Fremdzuschreibungen durchaus zeit- und kontextabhängig waren. Einen Projektemacher als Kulturvermittler zwischen Russland und Livland stellt Heribert Tommek mit J.M.R. Lenz vor, wobei er sich auf seinen von ihm selbst bereits edierten Briefwechsel [1] stützt.
Der Rezeption deutschsprachiger Dramen widmen sich Beata Paškevica und Mara Grudule. Beide zeigen, wie sich gesellschaftskritische Dramen in ihren Übersetzungen der lettischen Lebenswirklichkeit annäherten. Das galt für Ludvig Holbergs "Jeppe vom Berge" (Grudule) ebenso wie für Schillers "Räuber" (Paškevica). Weiter zurück, in die Antike, greift Jaan Undusk mit seiner Untersuchung der Übersetzung von Pindars Dichtung ins Estnische, die er vorwiegend aus literaturgeschichtlicher Perspektive betrachtet. Damit nimmt er den Ansatz von Juija Boguna, Imants Cīrulis, Līva Rutka und Taterka in ihrem Eingangsbeitrag zur Konstruktion lettischer Identität in einer Schrift J. Pulans wieder auf.
Indrek Jürjo zeigt anhand von Dokumenten aus dem estnischen Nationalarchiv und dem estnischen Historischen Museum sowie von Schriften in der Akademischen Bibliothek Lettlands den Bildungsdiskurs und die Bildungsreformen in Reval auf. Insbesondere in den Erziehungskonzepten des Freimaurers und Direktors der Revaler akademischen Ritterschule, Johann Göbel, waren zentrale Ideen der Aufklärung prominent vertreten.
Der mit einem Personenregister ausgestattete Band beleuchtet einmal mehr die Aufklärung von oben beziehungsweise von deutscher Seite, allerdings mit aktiver Beteiligung der Aufzuklärenden, und bietet darüber hinaus vielfältige Zugänge und Perspektiven auf das literarische und publizistische Leben im Baltikum um 1800. Der Nachteil einiger etwas weitschweifiger Darstellungen wird zum großen Teil aufgewogen durch die Originalität der Beiträge und die Editionen beziehungsweise Übersetzungen entlegener Literatur. Eine Synthese des übergeordneten Themas hätte das Buch noch abgerundet. Zu begrüßen ist, dass der Band Untersuchungen aus Deutschland und dem Baltikum versammelt.
Anmerkung:
[1] J.M.R. Lenz: Moskauer Schriften und Briefe. Kommentarband und Textband, hrsg. von Heribert Tommek, Berlin 2007.
Ragna Boden