Heike Talkenberger: Gauner, Dirnen, Revolutionäre. Kriminalität im 19. Jahrhundert, Darmstadt: Primus Verlag 2011, 191 S., ISBN 978-3-89678-357-8, EUR 24,90
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Die Erforschung von Kriminalität und Strafvollzug beleuchtet den verborgenen gesellschaftlichen Alltag. Gerade der Umgang mit abweichendem Verhalten und Delinquenz sagt viel über eine Gesellschaft, ihre Verfasstheit und kulturellen Praktiken aus. Noch immer zählt die historische Kriminalitätsforschung im deutschsprachigen Raum zu den jungen und besonders innovativen Gebieten der Geschichtswissenschaft. Während nicht zuletzt aufgrund der Quellenlage meist der Blick auf die Institutionen und Normen der Verbrechensbekämpfung vorherrscht und die straffällig Gewordenen aus der Perspektive der Justiz und der Polizeibehörden betrachtet werden, wählt Talkenberger einen neuen Ansatz und rückt die Wahrnehmung der Delinquenten selbst in den Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses. Gegenstand der Untersuchung sind daher vor allem autobiographische Texte von Inhaftierten, ihre Korrespondenzen und Memoirenliteratur aus dem Zeitraum zwischen 1810 und 1900. Bereits zuvor hat die Verfasserin mit der Edition der Autobiographie eines inhaftierten Betrügers auf diese bislang vernachlässigte Quellengattung aufmerksam gemacht.[1]
Talkenberger beschreibt anhand der Selbstzeugnisse von Straftätern, wie diese ihren Weg in die Kriminalität erklärten und in welchen Lebensumständen sie sich befanden, wie der Alltag in den Strafanstalten aussah und wie sich der weitere Lebensweg der Betroffenen nach ihrer Haftzeit gestaltete. Die autobiographischen Texte sind dabei aus quellenkritischer Sicht nicht unproblematisch: Oft in großem zeitlichen Abstand zu den geschilderten Ereignissen verfasst, sind sie nicht frei von Selbststilisierungen, subjektiven Interpretationen und überdies auch beeinflusst durch die Erwartungshaltung der Rezipienten. Diese Aspekte wurden bei der Interpretation der Texte quellenkritisch beachtet. Dabei wurde nachgewiesen, dass die Autobiographien tiefe Einblicke in die Lebenserfahrungen und Lebenswelten von Menschen vermitteln, die am Rande oder gänzlich außerhalb der Legalität lebten. Das Spektrum des untersuchten Personenkreises wurde dabei weit gefasst. Berücksichtigt wurden vor allem Prostituierte und Kleinkriminelle, aber beispielsweise auch politische Gefangene.
Im Zentrum der Untersuchung stehen zunächst die Lebensbeschreibungen von drei Strafgefangenen, zwei wegen Diebstahls und Betrugs verurteilter Männer aus der bayerischen Pfalz und aus der Gegend von Bremen sowie einer wegen Kindsmord inhaftierten Frau aus dem schweizerischen Emmental. Unter Einbeziehung zahlreicher weiterer Ego-Dokumente von Delinquenten werden danach systematisch die Ursachen der Straffälligkeit, die kriminellen Milieus, in denen sich die Betroffenen bewegten, die Strafverfolgung, der Strafvollzug und der Gefängnisalltag untersucht. Auch mit den Wegen der Strafgefangenen nach der Haft befasst sich die Studie, die danach fragt, ob ihnen ein Leben ohne Kriminalität gelang und inwieweit ihnen die Gesellschaft dabei half.
Den Reformansätzen im Strafvollzug seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gilt die besondere Aufmerksamkeit des Buches. Das den Reformbemühungen häufig zugrunde liegende "Besserungskonzept" war nicht selten Anlass für reformerisch gesonnene Gefängnisleiter, die Inhaftierten zur Niederschrift von Lebensbeschreibungen anzuhalten, die nun Grundlage dieser Arbeit sind. Die Lebensbeschreibungen waren daher von den Intentionen der Auftraggeber ebenso wie durch den sittlich-moralischen Besserungsdiskurs beeinflusst. Dennoch reproduzierten die Texte keineswegs einfach nur die Werte des Besserungskonzepts und können nicht auf reine Auftragsarbeiten reduziert werden. Vor allem die politischen Gefangenen waren der Überzeugung, an die Gesetze des von ihnen bekämpften Staates nicht gebunden zu sein. Auch bei Kriminellen wurde gelegentlich Stolz auf die eigene Geschicklichkeit bei ihren kriminellen Aktionen deutlich.
Besonders bei der Schilderung alltäglicher Sachverhalte, die etwa bei den Ursachen der Straffälligkeit oder den Verhältnissen in den Gefängnissen plastisch geschildert werden, lesen sich die Autobiographien wie Sozialreportagen. Sie enthüllen das soziale Elend und die gesellschaftlichen Missstände, die im 19. Jahrhundert weit verbreitet waren. Auch wenn die tristen Verhältnisse als Entschuldigung für die Straffälligkeit vorgebracht wurden und entlastende Funktion haben sollten, kann kaum ein Zweifel bestehen, dass die Perspektivlosigkeit aufgrund der sozialen Misere tatsächlich den Weg vieler Delinquenten in die Kriminalität begünstigt hatte. Vor allem die Welt der Vaganten und Nichtsesshaften war latent anfällig für Kriminalität. Besonders in den Lebensberichten von Frauen sind Gewalterfahrungen und das Erleiden sexueller Übergriffe die Regel. Minderjährige Frauen, die von ihren Familien verstoßen worden waren, hatten im frühen 19. Jahrhundert kaum Handlungsalternativen zur Prostitution. Gewalt herrschte auch in vielen Gefängnissen, trotz aller Reformbemühungen. Und in vielen Fällen agierten die Polizisten nicht als Ordnungshüter, sondern nahmen eine höchst ambivalente Rolle ein, bis hin zur Komplizenschaft mit Kriminellen. Auch nach der Haft verhinderte gerade die Polizeikontrolle eine "Resozialisierung" der ehemaligen Strafgefangenen, die ihren Arbeitsplatz verloren, wenn ihre frühere Straffälligkeit bekannt wurde.
Das Buch ist wissenschaftlich gut fundiert, gleichzeitig aber auch sehr anregend zu lesen. In Kästen werden zu den jeweiligen Sachverhalten Informationsblöcke geboten, in denen Begriffe und Einzelfragen erläutert werden. Talkenberger gelingt mit ihrem neuen Werk ein fruchtbarer Wechsel zu einer Alltagsgeschichte der Kriminalität im 19. Jahrhundert, die die Betroffenen selbst zu Wort kommen lässt.
Anmerkung:
[1] Heike Talkenberger (Hg.): Die Autobiographie des Betrügers Luer Meyer 1833-1855. Kommentierte Edition (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; 252), Hannover 2010.
Michael Wettengel