Rezension über:

Yaakov Sharett (ed.): The Reparations Controversy. The Jewish State and German Money in the Shadow of the Holocaust 1951-1952, Berlin: de Gruyter 2011, X + 406 S., ISBN 978-3-11-025508-9, EUR 99,95
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Rezension von:
Tamar Amar-Dahl
Freie Universität Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Tamar Amar-Dahl: Rezension von: Yaakov Sharett (ed.): The Reparations Controversy. The Jewish State and German Money in the Shadow of the Holocaust 1951-1952, Berlin: de Gruyter 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 7/8 [15.07.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/07/20728.html


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Yaakov Sharett (ed.): The Reparations Controversy

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Nur einige Jahre nach der Gründung des jüdischen Staats musste sich Israel mit einem besonders schmerzhaften Kapitel der jüngsten Vergangenheit befassen. Die Kontroverse, die sich daraus entspann - die Kontroverse um die Verhandlungen über die sogenannte Wiedergutmachung (hebräisch: Shilumim) mit der Bundesrepublik Deutschland 1951/52 -, gilt als die erste bedeutsame, da auf offizieller Ebene geführte Auseinandersetzung des neuen Staats mit der Shoah.

Dieser ideologisch-politischen Debatte widmet sich der vorliegende Band, der 39 Schlüsseldokumente (Protokolle von Sitzungen u.a. der Knesset, des Kabinetts, von Parteigremien, aber auch Reden von führenden Politikern und Aufzeichnungen von Pressekonferenzen) beinhaltet. Dazu kommen zwei historiographische Beiträge der israelischen Historiker Yehiam Weitz (An Introduction, 1-22) und Benyamin Neuberger (A Retrospective, 376-382), die sich besonders für eine Schlüsselfigur auf israelischer Seite interessieren: Moshe Sharett, Außenminister zwischen 1949 und 1956. [1]

Was macht diesen Dokumentenband so lesenswert? Weshalb ist die innerisraelische Kontroverse um die Wiedergutmachungsverhandlungen historisch so bedeutsam? Die Antwort liegt auf der Hand: Die publizierten Quellen geben Einblick in sehr frühe israelische Deutungen der Shoah. Die Protagonisten - ob Befürworter oder Gegner der sogenannten Wiedergutmachung - kämpften nicht nur gegeneinander. Die Kontroverse um die Legitimität der Verhandlungen um die Shilumim verrät vor allem die große Unsicherheit im Umgang mit der nur wenige Jahre zurückliegenden Katastrophe. Anfang der 1950er Jahre war die Shoah in der Öffentlichkeit nur ein Randthema; erst mit dem Eichmann-Prozess 1961 begann sie ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Um 1949 dagegen befasste sich der neue Staat mit dem gerade gewonnenen arabisch-israelischen Krieg und seinen einschneidenden geographischen und demographischen Folgen. Aus dieser Perspektive waren 6000 israelische Gefallene bei 600.000 jüdischen Bewohnern Palästinas präsenter als die sechs Millionen ermordeten europäischen Juden.

Und dennoch befürwortete die politische Elite des Landes unter der Führung von David Ben Gurion und Moshe Sharett bereits 1950 Verhandlungen mit der Bundesrepublik und setzte diese trotz einer vehementen, emotional aufgeladenen parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition durch. Mit dem realpolitischen Argument, man benötige das Geld für die Überlebenden der Shoah und den Aufbau des jüdischen Nationalstaats, errang die Regierung schließlich eine knappe Mehrheit in der Knesset von 61 zu 59 Stimmen. Im Rückblick begünstigte die Entscheidung für "Wiedergutmachungs"-Zahlungen nicht nur den Aufbau Israels. Sie legte auch den Grundstein für die historisch bedeutsame deutsch-israelische Allianz, denn die Bundesrepublik erwies sich sehr bald als Israels wichtigster Verbündeter in Europa.

Für die Protagonisten der Kontroverse war eine solche Entwicklung 1951/52 unvorstellbar. Das Deutschland-Bild dieser Zeit war vielmehr von Traumata und Fassungslosigkeit geprägt. Schon die Frage, ob beide Verhandlungsparteien an einem Tisch zusammen sitzen sollten, wurde ernsthaft debattiert. Doch der Kern der Auseinandersetzung war ein anderer: Konnte die politische Führung Israels als Repräsentant des jüdischen Volkes überhaupt mit Vertretern der Bundesrepublik verhandeln? War dies nicht moralisch anstößig, würdelos oder sogar gefährlich? Musste man nicht - nur sieben Jahre nach dem Holocaust - alle Kontakte mit der westdeutschen Adenauer-Regierung ablehnen?

Der Band verrät, wie eindringlich und vielschichtig diese erste Auseinandersetzung mit der Shoa geführt wurde, gerade weil die letztlich getroffene Entscheidung bei den meisten Protagonisten wenn nicht Missbilligung, so doch Unbehagen auslöste. Dies zeigt sich vor allem im Protokoll einer dreitägigen Knesset-Sitzung im Januar 1952 (161-272). Obwohl der Kurs der Regierung letztlich gebilligt wurde, lehnten die meisten Parteien jeglichen Kontakt zum Land der Täter instinktiv ab; die liberalen General Zionists, der sozialistisch-linkszionistische Mapam, die rechtzionistische Herut, die Israel Communist Party und der nationalreligiöse Hamizrachi stimmten sogar gegen die Verhandlungen.

Argumentiert wurde dabei vor allem "aus dem Bauch" heraus: Herut-Führer Menachem Begin führte die Opposition in der Knesset und brachte sie auch auf die Straße. Sein Credo lautete: Verhandlungen mit Deutschland seien unwürdig, ja geradezu eine Schande. Oder wie Begin selbst sagte: "Not only did the gentiles hate us, not only did they murder us, not only did they burn us, not only did they envy us - they mainly despised us. And in this generation, which we call 'the last of bondage and first of redemption' - the generation in which we gained a position of respect, in which we came out of bondage - you, for a few million unclean dollars, for unclean goods, are going to deprive us of the little respect we have gained." (181) Abraham Berman, ein Abgeordneter der Mapam, hielt Verhandlungen mit der Bundesrepublik für undemokratisch, und zwar unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen in der Knesset: "No artificial, formal majority in the Knesset, formed through pressure and coercion, will work. That majority - if there will be one - will be a distortion of the will of the people. The true majority of the Jewish people will oppose any negotiations with Hitler's Successors." (243) Und Yosef Sapir von den General Zionists sah in der "Wiedergutmachung" sogar eine Gefahr: "[...] the Jewish people are in a state of war with the German people. [...] has the time come for a ceasefire with Germany? [...] I am very much afraid that in view of the murder and plunder on one hand and the possibility of settling accounts so easily on the other, others would be prepared to repeat these deeds." (209 f.)

Auch fürchtete man, Israel müsse immaterielle Gegenleistungen erbringen, also einen Schluss-Strich unter die Menschheitsverbrechen des NS-Staats akzeptieren. Während die Regierung beteuerte, die Shilumim bedeute weder Vergessen noch Verzeihen, äußerte Yizhar Harari (Progressive Party) Zweifel: "We are told that we will obtain reparations but not forgive. The question is, when will we not forgive? When we enter the negotiating room or when we leave it? Whom do we tell every time that we have not forgiven? [...] How will our anger and bitterness be expressed? By repeating to ourselves every now and again that we shall not forgive while goods and contact flow between us and the Germans?" (222) Moshe Aram (Mapam) brachte das Dilemma auf dem Punkt, sich des Lands der Täter bedienen zu müssen, um die eigene Nation aufbauen zu können: "We need money, a lot of money. [...] [but t]his money cannot bring about our redemption. This 'rational' attitude will poison the essence of the state, that 'irrationality' without which the rug will be pulled out from under our feet." (236)

Letztlich behielt 1952 das rationale Kalkül die Oberhand - ähnlich wie 1933, als die Führung des jüdischen Jischuw gegen heftige Opposition Verhandlungen mit NS-Deutschland durchgesetzt und ein Abkommen unterzeichnet hatte, das etwa 60.000 deutschen Juden bis 1939 zu relativ günstigen Konditionen die Emigration nach Palästina ermöglichte. 1933 wie 1952 ging es um die zionistische Sache. Ben Gurion setzte die "Wiedergutmachungs"-Verhandlungen daher gegen alle Widerstände durch. Rache, Vergeltung und Feindschaft müssten in die zweite Reihe rücken; sie seien der heiligen Aufgabe nicht dienlich, einen jüdischen Staat aufzubauen: "I would like to say to our two comrades [...], that I share their pain, not their emotion. [...] The main debate is between two attitudes: that of ghetto Jews and that of citizens of an independent people. I do not want to run after a German and spit on him. [...] My interest is to stay where I am and build my home." (123)

Der Band ist nicht nur wegen der Auswahl und der Übersetzung von Schlüsseldokumenten verdienstvoll. Die hier publizierten Quellen zu einer historisch bedeutsamen politischen Kontroverse bieten auch brisante Einsichten in das israelische Deutschland-Bild der frühen Jahre.


Anmerkung:

[1] Es handelt sich um die gekürzte Fassung des in hebräischer Sprache erschienenen, etwa 1000 Seiten starken Dokumentenbands rund um den Polmus Ha-Schilumim, den Moshe Sharetts Sohn Yaakov herausgegeben hat; Yaakov Sharett (ed.): Polmus Ha-Schilumim. Moshe Sharett and the German Reparations controversy, Documents-Volume 1950-1953, Tel Aviv 2007.

Tamar Amar-Dahl