Kirsten Fitzke: "Hier ist der Tod der Würger". Die Arbeiten Erich Drechslers zum Ersten Weltkrieg, Marburg: Tectum 2011, 395 S., 112 Abb., ISBN 978-3-8288-2059-3, EUR 34,90
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Kopflose Begeisterung am Tage der Mobilmachung, scheinheilige Prediger auf der Kanzel, die verheerenden Waffen des industrialisierten Krieges mit Granaten, Gas, Tanks und Flammenwerfern, die Folgen des Krieges in Tod und verkrüppelten Körpern: In über 50 Zeichnungen widmete sich der junge Geraer Künstler Erich Drechsler von 1919-1924 der Darstellung des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen. Dass sein Werk heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, liegt einerseits in Drechslers Biografie begründet, der sich nach kurzer künstlerischer Karriere bereits Ende der 1920er-Jahre der Medizin zuwandte, andererseits in der Form und Erhaltung seiner Arbeiten: Fitzke weist sechs inhaltlich aufeinander aufbauende Weltkriegszyklen nach, die jedoch nicht als Grafikfolgen aufgelegt wurden, sondern als Zeichnungen Unikate blieben und sich damit der weiteren Verbreitung entzogen. Durch Nationalsozialisten beschlagnahmt oder auf nicht mehr nachvollziehbaren Wegen in private Sammlungen gelangt, ist zudem ein großer Teil der besprochenen Werke verschollen oder zerstört. Fitzkes Monografie spürt diesen Zeichnungen nach und entreißt damit einen Künstler der Vergessenheit, dessen Weltkriegsverarbeitung symptomatisch für eine Reihe in der Forschung bislang häufig vernachlässigter Arbeiten zum Thema des Ersten Weltkrieges steht: Die serielle, allegorische Darstellung des Krieges als Totentanz.
In einer Abhandlung über die Ikonografie des Totentanzes weist Fitzke auf die Problematik der häufig auch von Fachwissenschaftlern unreflektierten Verwendung dieses Begriffes und das Fehlen einer verbindlichen Definition hin. Behelfsweise verwendet sie daher die Definition von Tilmann Köppe, welcher den Totentanz als Inszenierung des Antagonismus von Leben und Tod sieht, ausgedrückt in der Konfrontation des Sterbenden mit einer als Skelett oder Leichnam auftretenden Todespersonifikation (51f.). Mit Verweis auf den in der Forschung trotz des Fehlens dieser Elemente immer wieder als Totentanz bezeichneten Grafikzyklus "Der Krieg" (1924) von Otto Dix und die literarische Verwendung [1] des Begriffs, konstatiert die Autorin über die ikonografische Tradition hinaus einen "Ausdruck [...], der auf der Sinnebene für das Massensterben im Ersten Weltkrieg dient." (53) Dies führt sie an späterer Stelle zu einer Erweiterung des Totentanzbegriffes auf Kriegskrüppeldarstellungen.
In Fitzkes erstmaliger Zusammenfassung sämtlicher auffindbarer Totentanzarbeiten Drechslers [2] lässt sich der exemplarische Versuch eines Künstlers erkennen, die nur mittelbar erfahrenen Geschehnisse des Krieges adäquat umzusetzen - mit klaren Wirkungsabsichten. Die Autorin bemüht sich darum, die persönlichen und medialen Voraussetzungen für das vorliegende Material offenzulegen und es sowohl in die kunsthistorische Tradition der Totentanzdarstellung, als auch die zahlreichen Totentanzzyklen zum Ersten Weltkrieg einzureihen. Ein besonderes Augenmerk legt sie dabei auf die Rezeptionsgeschichte: Offensichtlich waren Drechslers Arbeiten durch ihren allegorischen Gehalt eher dazu in der Lage, verschiedene politische Lager durch unterschiedliche Deutungen anzusprechen, als etwa die seines ebenfalls aus Gera stammenden Zeitgenossen Otto Dix. Während die fünfte Totentanzfassung des ersteren von der Stadt angekauft wurde, diente ebendiese Erwerbung sowohl Sozialdemokraten wie bürgerlichen Parteien als Argument gegen den Ankauf der die Kriegsrealität wesentlich drastischer darstellenden Mappe "Der Krieg" von Dix. Hier zeigt sich die Ironie, dass Dix entgegen seiner ursprünglichen Intention als Antikriegskünstler verstanden wurde, während Drechslers radikal pazifistische Haltung erst in dessen Mitte der 1920er-Jahre entstehenden gesellschaftskritischen Pressezeichnungen von Rezipienten klar erkannt wurde. Fitzke verweist in einem eigenen Kapitel auf die problematische Definition einer "Antikriegskunst" in den 1920er-Jahren und betont die diametral entgegengesetzten Rezeptionsmöglichkeiten von Krieg und Gewalt in der Kunst, welche in der jüngeren Forschungsliteratur häufig unhinterfragt geblieben sind. [3]
Gerade 16-jährig fertigte Drechsler 1919 seinen ersten Totentanz. In zehn Blättern verarbeitete er die ihm zur Verfügung stehenden Quellen, um sich ein Bild des Krieges zu schaffen: Ein linkspolitisch aktives Elternhaus und eigene Tätigkeit in der sozialistischen Arbeiterjugend vermittelten ihm die pazifistische Grundeinstellung, zeitgenössische Illustrationen und Zeitungsfotografien das Bildmaterial, welches er vor dem Hintergrund einer intensiven Beschäftigung mit der Tradition von Totentanzdarstellungen umgestaltete. Drechslers Ziel war nicht die schmucklose Widergabe von Weltkriegsrealität, die er bei seinem späteren Studienkollegen, dem Kriegsteilnehmer Dix an der Dresdner Akademie aufrichtig bewunderte. In der Nachfolge Alfred Rethels entstanden effektvolle Sinnbilder des Frontsterbens, der Tod selbst erscheint wie im Revolutionstotentanz des Vorgängers von 1848 in der Rolle des Volksverführers und alleinigen Siegers der Kämpfe. Hier jedoch liegt eine entscheidende Neuerung im Einsatz der Todesfigur bei Drechsler und seinen Zeitgenossen: Die Unvorstellbarkeit der industriellen Kriegsmaschinerie, deren Darstellung sich konventioneller Abbildung zu entziehen scheint, wird durch die Allegorie des Todes vergegenwärtigt, der seine eigene Ursache und Wirkung ist, der selbst zur Waffe und zum Bediener der vom Menschen eigens für ihn gefertigten Waffen wird.
In den sechs, jeweils ca. zehnteiligen Zyklen entwickelte Drechsler einmal gefundene Motive weiter. Neben der eigenen künstlerischen Entwicklung lassen sich äußere Faktoren konstatieren, welche das Werk entscheidend beeinflussten. So wechselte die Technik 1920 im dritten Zyklus von Tusche zu Kreide, wodurch die Blätter expressiver wirken. Vergleicht man diese mit der Grafikserie Revolution von Eric Godal aus dem gleichen Jahr, so wird man bei beiden Einflüsse expressionistischer Filmästhetik konstatieren können. [4] Die auffälligste Veränderung jedoch ist die Aufnahme neuer Themen in den letzten, sechsten Totentanz von 1924. Hier wurden mit dem Lazarett und dem Kriegskrüppel Sujets aufgegriffen, welche aus den aktionsreichen Darstellungen des Todes in der Granatexplosion oder auf dem Tank herausfallen. Neben dem in der Weimarer Republik alltäglichen Anblick von Kriegskrüppeln lassen sich Vorbilder in Grafiken von Dix, Grosz oder Hoerle ausmachen. [5] Auffällig ist jedoch, dass Drechsler diese Motive in seinen Totentanz integrierte, ohne den personifizierten Tod hinzuzufügen. Fitzke kann hier überzeugend nachweisen, dass bereits in historischen Totentänzen, etwa bei Holbein, der Sieche ohne ein zusätzliches Knochengerippe auskam: Der von Köppe vorausgesetzte Antagonismus von Leben und Tod realisiere sich hier im "lebenden Körper, von dem Teile bereits der Tod geholt hat." Der Krüppel wird somit selbst zur Todesmetapher, zur Allegorie menschlicher Vergänglichkeit, womit Drechsler "unter Rückgriff auf eine motivische Tradition eine realistische Sicht innerhalb eines zutiefst allegorisch geprägten Themas" gelingt (203).
In Drechslers Werk lässt sich in den 1920er-Jahren eine zunehmende Abwendung von der Allegorisierung und Hinwendung zu veristischen Themen konstatieren. Dies resultiert nach Fitzke aus der eigenen Anschauung, doch eine eklektizistische Orientierung an den großen Vorbildern Dix und Grosz lässt sich nicht von der Hand weisen. Das Motiv des Totentanzes zur Umsetzung von Kriegsdarstellung macht den Künstler trotzdem für die weitere Forschung interessant und die von Fitzke herausgearbeiteten Erkenntnisse zur Totentanzikonografie ermöglichen neue Perspektiven auf Werke seiner Zeitgenossen. Die volle Bedeutung des Begriffes Totentanz in seinen unterschiedlichen Deutungen der 1920er-Jahre zu klären, bleibt Desiderat der Forschung, denn sie geht über den personifizierten Tod hinaus: "So sinnlos ergriffen. Ganz hin. So als ob es auf den Ballboden ginge. Die Geschosse tobten Musik. Die Hurras schurrten im Takt. Schauriger Totentanz. Aber niemand dachte an Holbein oder Rethel." [6]
Anmerkungen:
[1] An dieser Stelle fehlen leider konkrete Nachweise. Eine systematische Untersuchung der Verwendung des Wortes "Totentanz" in der mit dem Ersten Weltkrieg befassten Literatur steht bislang aus.
[2] Diesen Arbeiten ist mindestens eine weitere hinzuzufügen: Das Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin verzeichnet ein Blatt "Kriegskrüppel", siehe: Gefühl ist Privatsache. Verismus und Neue Sachlichkeit (Ausst. Kat. Berlin, Kupferstichkabinett Staatliche Museen zu Berlin 2010), Petersberg 2010, 104, Kat. 61. Warum Fitzke dieses mehrfach publizierte Blatt, welches in unmittelbarem Zusammenhang mit dem ihrer Aussage nach völlig verschollenen sechsten Totentanz steht, nicht aufnimmt, bleibt unklar.
[3] Dass z.B. Grafiken von Käthe Kollwitz keineswegs nur pazifistische Wirkung entfalteten, erläutert Alexander Roob: Das Grauen, das aus Archiven kommt: "Kriegszeit" in Stuttgart [28.05.2011], in: http://meltonpriorinstitut.org/pages/textarchive.php5?view=text&ID=105&language=Deutsch (15.05.2012).
[4] Im gleichen Jahr erscheint Robert Wienes "Das Cabinet des Dr. Caligari". Fitzke erwähnt entsprechende Einflüsse nicht, doch ist das zeitliche Zusammentreffen mit Drechslers plötzlichem Stilwechsel augenfällig.
[5] Fitzke erwähnt die Bewunderung Drechslers für Dix, zeigt aber nicht deren ganzes Ausmaß. So ist etwa die Zeichnung "Blinder Bettler" von 1923 (Abb. 65) in Thema und Komposition eine nur minimal veränderte Kopie von Dix' Radierung "Streichholzhändler" (1920).
[6] Paul Zech: Das Grab der Welt. Eine Passion wider den Krieg auf Erden, Hamburg / Berlin 1919, 157.
Clemens Klöckner