Averil Cameron: The Mediterranean World in Late Antiquity. AD 395-700 (= Routledge History of the Ancient World), 2nd ed., London / New York: Routledge 2012, XIV + 300 S., ISBN 978-0-415-57961-2, GBP 21,99
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Sam J. Barnish / Federico Marazzi (eds.): The Ostrogoths from the Migration Period to the Sixth Century. An Ethnographic Perspective, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2007
M. Shane Bjornlie: Politics and Tradition Between Rome, Ravenna and Constantinople. A Study of Cassiodorus and the Variae, 527-554, Cambridge: Cambridge University Press 2013
Andreas Goltz: Barbar - König - Tyrann. Das Bild Theoderichs des Großen in der Überlieferung des 5. bis 9. Jahrhunderts, Berlin: De Gruyter 2008
Averil Cameron hat sich in den letzten 40 Jahren durch viele grundlegende Beiträge zur Geschichte der Spätantike einen Namen gemacht. Am Anfang stand eine Monographie über den klassizistischen Historiographen Agathias (1970), der 15 Jahre später ein grundlegendes Werk über "Procopius and the Sixth Century" folgte. Durch Editionen, Kommentare und Übersetzungen hat sie mehrere bedeutende Quellen erschlossen: 1976 die Lobrede des Corippus auf Kaiser Justin II., 1984 (zusammen mit Judith Herrin) die "Parastaseis syntomoi chronikai", einen Text des 8. Jahrhunderts über die monumentale Topographie Konstantinopels, 1997 (zusammen mit Stuart Hall) Eusebs "Leben Kaiser Constantins". Aus den "Sather Classical Lectures" ging ein Buch hervor, das unter dem Titel "Christianity and the Rhetoric of Empire" (1991) die Christianisierung politischer Diskurse in der Spätantike analysiert.
Diese und viele andere Arbeiten weisen Cameron als eine Historikerin aus, die sich des intentionalen und artifiziellen Charakters "literarischer" und "dokumentarischer" Texte vollauf bewusst ist. Philologische Akribie und hermeneutische Sensibilität sind jedoch nur ein hervorstechendes Merkmal ihres weitgespannten Œuvres. Denn Cameron hat sich zugleich stets mit historischen Zusammenhängen und Entwicklungen über lange Zeiträume beschäftigt und dabei immer auch materielle Überreste in ihre Überlegungen einbezogen. 1993 legte sie in der von Fergus Millar herausgegebenen "Routledge History of the Ancient World" ein schlankes, aber gedankenreiches Buch mit dem Titel "The Mediterranean World in Late Antiquity, AD 395-600" vor, das sich in zweierlei Hinsicht von anderen Darstellungen der Spätantike unterschied: zum einen durch die ungewöhnliche Abgrenzung in Raum und Zeit, die das 4. Jahrhundert ebenso ausklammert wie Nordwesteuropa und den Donauraum, zum anderen durch die reflektierende Darstellungsweise, die Forschungsproblemen breiten Raum gewährt, aber auf die narrative Rekonstruktion von Handlungsketten und die analytische Deskription von Institutionen weitgehend verzichtet. 19 Jahre später erscheint nun eine zweite gründlich überarbeitete Auflage. Die Grundstruktur des Textes ist dabei unverändert geblieben. Auch die zweite Auflage setzt die Kenntnis der so genannten Ereignisgeschichte und staatlicher oder kirchlicher Strukturen voraus. Die einzelnen Kapitel tragen den Charakter von Erörterungen, die in der Regel einem Aspekt der sozialen und kulturellen Entwicklung gewidmet sind. Dabei wird der Mittelmeerraum zwar als eine kulturgeographische Einheit behandelt, aber konsequent aus "oströmischer" oder "byzantinischer" Perspektive betrachtet. In dieser Perspektive liegt auch die Rechtfertigung für den gewählten Anfang der Darstellung, denn Cameron ist überzeugt, dass "Osten" und "Westen" seit dem Tod Theodosius' I. rasch auseinanderdrifteten. Das Buch beginnt darum mit einem Kapitel über "Constantinople and the eastern empire" (20-38), während der westliche Mittelmeerraum im zweiten Kapitel unter der Überschrift "The empire and the barbarians" (39-57) lediglich als Schauplatz politischer Fragmentierung in den Blick genommen wird. Cameron geht es nicht um die Entstehung Europas, sondern um die "Erosion" des Imperium im Westen und den Strukturwandel seiner Armee. Das dritte Kapitel (58-83) nimmt mit dem Begriff "Christianization" einen Leitbegriff der jüngeren Forschung auf und unterscheidet sich auch dadurch von der ersten Auflage, dass die religiöse Vielfalt der Spätantike, insbesondere die Rolle der Heiden und Juden, nun stärker betont wird. Mit Recht hebt Cameron (gegen Peter Brown) hervor, dass die Einstellungen und Verhaltensweisen gewöhnlicher Menschen gerade im Bereich der Religion schwer rekonstruierbar sind, weil der Großteil der überlieferten Literatur- nicht nur die so genannte Hagiographie - normativen Charakter trägt und oftmals apologetischen oder propagandistischen Zwecken dient. Das vierte Kapitel "Late Roman Society and Economy" (84-103) betont erneut die Unterschiede zwischen "Westen" und "Osten": Der Osten war stärker urbanisiert und erlebte in der Spätantike ein erhebliches Bevölkerungswachstum; zugleich war er durch das System staatlicher Versorgungslieferungen für Hauptstadt, Verwaltung und Armee in ein überregionales Austauschsystem integriert, das bis ins frühe 7. Jahrhundert Bestand hatte.
Ziemlich genau in der Mitte des Buches steht das Kapitel über "Justinian and reconquest" (104-127). Für Cameron war Justinian ein "starker" Kaiser, der mit seinen ambitionierten Zielen keineswegs auf der ganzen Linie gescheitert sei, auch wenn die Folgen seiner Kriege für die Betroffenen teilweise desaströs waren. Die Auswirkungen von Seuchen und anderen Naturkatastrophen hingegen sind ihrer Auffassung nach anhand der vorhandenen Quellen schwer abschätzbar. Das sechste Kapitel heißt in der zweiten Auflage nicht mehr "Culture and mentality", sondern "Late antique culture and private life" (128-145); diese Umbenennung soll zum Ausdruck bringen, dass die Spätantike auch im Bereich der Kultur keineswegs homogen, sondern komplex, dynamisch und heterogen gewesen sei. An die Stelle des Begriffs der Mentalität ist derjenige des privaten Lebens getreten, der freilich unbestimmt bleibt. In der Darstellung schlägt sich dieser Begriffswandel darin nieder, dass zu den Ausführungen über Schule, Literatur und Philosophie solche über Familie, Sexualität und Geschlechterrollen hinzugekommen sind. Das siebte Kapitel "Urban change and the late antique countryside" (146-167) bietet eine souveräne Zusammenfassung der weitverzweigten historischen und archäologischen Forschung zur spätantiken Stadt. Cameron folgt Liebeschuetz in der Annahme, dass der Rückgang in der Zahl und Ausdehnung städtischer Siedlungen - verbunden mit dem Verschwinden öffentlicher Räume, der Aufsplitterung großer Wohneinheiten und dem Übergang zu befestigten Siedlungen - im Osten zwar erheblich später einsetzte als im Westen, aber auch im Osten bereits vor den Eroberungen durch Perser und Araber im 7. Jahrhundert begann; zugleich betont sie jedoch, dass die Entwicklung regional sehr unterschiedlich verlief. Zudem lehnt sie es im Unterschied zu Liebeschuetz prinzipiell ab, diesen Wandel als Niedergang zu bewerten. Trotz der häufigen gewalttätigen Unruhen habe in spätrömischen Städten in der Regel eine Art Konsens zwischen Machthabern und Bevölkerung bestanden, doch sei dieser Konsens stets fragil gewesen und habe leicht in offene Gewalt umschlagen können. Das achte Kapitel "The Eastern Mediterranean - a region in ferment" (168-190) ist gegenüber der ersten Auflage beträchtlich erweitert. Es behandelt nun ausführlich die Entstehung arabischer Stammesverbände, die komplexen linguistischen und kulturellen Entwicklungen im Osten des Reiches und die bedrängte Lage der Juden, deren Gemeinden sich gleichwohl eines beträchtlichen Wohlstands erfreut hätten. Auch die eingehende Behandlung von Asketen, religiösen Spaltungen und Konzilien war in der ersten Auflage nicht enthalten. Ganz neu geschrieben wurde das neunte und letzte Kapitel "A changed world" (191-207). Cameron schildert hier zunächst die persisch-römischen Kriege des 6. und 7. Jahrhunderts, geht dann aber auch auf die arabische Eroberung des römischen Orients und deren Folgen für die eroberten Gebiete ein. Sie betont, dass die Kontinuitäten zunächst überwogen hätten, und möchte eine Zäsur erst mit der Übersiedlung des Kalifats von Damaskus nach Bagdad ansetzen. Dabei bestreitet sie nicht, dass der Verlust der östlichen Provinzen für "Byzanz" selbst einschneidende Folgen hatte. Wie in der ersten Auflage endet das Buch mit einer "Conclusion", die große Teile des alten Textes wiederholt, ihn aber durch zusätzliche Ausführungen ergänzt, um auf aktuelle Forschungen einzugehen. Der Tenor ist jedoch unverändert: Die Veränderungen, die sich zwischen 395 und 700 n.Chr. vollzogen, könnten und sollten nicht als Niedergang beschrieben werden und ließen sich auch nicht aus einer Ursache erklären. Damit greift sie ein Motiv wieder auf, das bereits in der "Introduction" (1-19) angeschlagen wurde: "Perhaps the days of grand generalizations about the end of antiquity are over" (10).
"The Mediterranen World in Late Antiquity" ist und bleibt bis auf weiteres die überzeugendste Darstellung der Spätantike aus der Perspektive derjenigen, die diese Epoche bis ins 7. Jahrhundert oder noch darüber ausdehnen möchten. Die Kohärenz der Darstellung wird dadurch ermöglicht, dass Cameron das oströmische Reich ins Zentrum stellt; sie blendet die "barbarischen" Königreiche des Westens ebenso aus wie das Reich der Sassaniden im Osten. Mit dem mainstream angloamerikanischer Forschung teilt sie die kategorische Ablehnung negativer Werturteile über Entwicklungen, welche die Spätantike von anderen Epochen unterscheiden; für sie gibt es nur beständigen Wandel. Dass die Abgrenzung der Spätantike als einer Epoche mit spezifischen Merkmalen dadurch nahezu unmöglich wird, ist ihr durchaus bewusst. Getragen von einer Welle akademischer Zustimmung, glaubt sie sich der Notwendigkeit enthoben, selbst Kriterien für die Relevanz historischer Phänomene anzugeben. Von den "kulturalistisch" orientierten Vertretern des Konzepts der "langen" Spätantike unterscheidet Cameron sich zum einen dadurch, dass sie immer wieder betont, dass christliche Diskurse nicht mit sozialen Praktiken gleichgesetzt werden dürfen; von der naiven Deutung der Spätantike als "age of spirituality" ist sie weit entfernt. Ihr Ansatz bekommt zum anderen aber auch dadurch ein unverwechselbares Profil, dass sie ökonomische und soziale Prozesse, insbesondere Austauschbeziehungen und Siedlungsformen, breit berücksichtigt. Damit führt sie eine glanzvolle Tradition britischer Forschung fort, die durch Gelehrte wie A. H. M. Jones und Wolfgang Liebeschuetz repräsentiert wird. In auffälliger Weise abwesend ist dagegen eine zusammenhängende Erörterung der Mechanismen, die Herrschaft in einem so großen Imperium über so lange Zeit ermöglichten; Kategorien wie Akzeptanz oder Konsens, Ritual oder Kommunikation tauchen allenfalls am Rande einmal auf.
Camerons Buch ist zu voraussetzungsreich, um Anfängern einen Einstieg in die Epoche zu vermitteln. Fortgeschrittenen vermag es jedoch viele Anregungen zu geben, weil es für Forschungsprobleme sensibilisiert und zuverlässig über aktuelle Debatten im angloamerikanischen Bereich informiert. Camerons ceterum censeo, dass monokausale Erklärungen niemals befriedigen, vermag sicher als heilsame Warnung vor unangemessener Vereinfachung zu wirken, auch wenn es mitunter in die Nähe theoretischer Beliebigkeit führt. Freilich ist festzustellen, dass die Misere des britischen Bildungssystems auch in diesem, für den akademischen Unterricht bestimmten Band seine Spuren hinterlassen hat, insofern nämlich, als Forschungen in anderen Sprachen kaum noch berücksichtigt werden. Auch aus diesem Grund wird man dort, wo Deutsch gelesen wird, noch immer mit Gewinn auf Jochen Martins Band "Spätantike und Völkerwanderung" aus dem Jahre 1995 zurückgreifen, auch wenn dieser inzwischen aufgrund seines Alters nicht mehr überall auf dem Stand der internationalen Forschung ist.
Hans-Ulrich Wiemer