Francis Robinson (ed.): The Islamic World in the Age of Western Dominance (= The New Cambridge History of Islam; Vol. 5), Cambridge: Cambridge University Press 2010, XX + 830 S., ISBN 978-0-521-83826-9, GBP 125,00
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Band V der New Cambridge History of Islam behandelt die Politik- und Institutionengeschichte islamisch geprägter Gesellschaften weltweit und über zwei Jahrhunderte hinweg, von etwa 1800 bis zur Gegenwart. Selbst ein enzyklopädisch angelegtes Referenzwerk wie das vorliegende kann die unüberschaubare Vielfalt der Themen, die es in diesem weitgesteckten Rahmen potenziell zu untersuchen gäbe, nur exemplarisch behandeln. Herausgeber und Verlag haben die Themenfülle durch zwei konsequente Leitlinien zu bändigen versucht. Die erste Leitlinie ist bereits durch den Titel des Bandes vorgegeben, der "Western dominance", westliche Vorherrschaft, als Signum der Epoche hervorhebt. Eine zweite Leitlinie des Bandes ist die Konzentration auf Politik- und Institutionengeschichte. (Dieser solchermaßen eingeschränkte Blickwinkel wird durch die sozial- und kulturgeschichtlich orientierten Beiträge im sechsten Band - siehe unten - der New Cambridge History of Islam teilweise ergänzt).
Formal zeichnet sich der Band durch große Übersichtlichkeit aus. Die einzelnen Kapitel sind als Regionalstudien angelegt und werden in zwei Epochenblöcken zusammengefasst. Der erste Block behandelt unter dem Titel "The Onset of Western Domination" das "lange" 19. Jahrhundert von ca. 1800 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, der zweite Block, betitelt "Independence and Revival", die Periode von 1919 bis in die Gegenwart. Dem zeitgeschichtlichen Teil wird dabei deutlich mehr Raum gegeben als dem 19. Jahrhundert
Die in dem Band eingenommene Perspektive auf die moderne islamische Geschichte wird in der Einleitung des Herausgebers, Francis Robinson, näher beschrieben. Robinson hebt darin zwei Entwicklungen hervor: die im 19. Jahrhundert entstehende Hegemonie westlicher Mächte und das Aufkommen islamischer Erneuerungsbewegungen (1). Im Weiteren eröffnet er ein weites historisches Panorama und kann dabei belegen, dass die Verfolgung der beiden genannten thematischen Schneisen tatsächlich großen Erkenntnisgewinn verspricht. Etwas störend in Robinsons Einleitung sind allerdings manche Formulierungen, die eine Tendenz zur unkritischen Identifikation mit bestimmten islamischen Strömungen anzudeuten scheinen, zum Beispiel "the lifeblood of reform" (17). Auch die pauschale Charakterisierung des Königreichs Saudi Arabien als "engine of reform" (ebd.) mag nicht recht überzeugen. Regelrecht überflüssig erscheint die abschließende pauschalisierende Aussage, die durchaus auch als paternalistisch verstanden werden kann: "Muslim tenacity in respecting the roots of their civilization, and at times their creativity in finding solutions to the challenges of modernity, are examples from which we all can learn and all should respect." (28)
Insgesamt ist die Umsetzung des editorischen Konzeptes als gelungen zu bezeichnen. Bei einer näheren Betrachtung des Bandes werden aber einige Unausgewogenheiten und Versäumnisse deutlich. Zunächst zeigt ein Blick auf die Liste der Beitragenden, dass sich der Herausgeber fast vollständig auf, vorwiegend männliche, Kollegen an US-amerikanischen und britischen Universitäten verlassen hat. Damit ist die Vielfalt akademischer Perspektiven von vornherein eingeschränkt. Noch unvorteilhafter für den Band ist, dass die Literaturverweise durchweg englischsprachige Veröffentlichungen privilegieren. Hiermit wird einer bereits existierenden Tendenz zur Abwertung nicht-englischsprachiger Veröffentlichungen weiter Vorschub geleistet. Desweiteren ist anzumerken, dass die im Titel angesprochene "islamische Welt" unterbelichtet bleibt. Querverbindungen zwischen Muslimen in den einzelnen besprochenen Regionen werden nur äußerst selten angesprochen. Schließlich mangelt es an einer Eingrenzung dessen, was es unter dem Stichwort "Islam in der Moderne" eigentlich zu untersuchen gilt. Die genannten Stärken und Schwächen des Bandes lassen sich in fast allen Kapiteln wiederfinden. Darüber hinaus setzen die einzelnen Autoren selbstverständlich individuelle Akzente. Im Folgenden können nur einige Beispiele genannt werden.
Der Beitrag von Charles Tripp zu Westasien seit dem Ersten Weltkrieg (336-371) bietet einen gut strukturierten aber konventionellen Abriss zur Geschichte islamischer politischer Bewegungen in den Nationalstaaten der Region. Der Fokus liegt dabei allein auf den Vertretern des politischen Islam in den jeweiligen Staaten. Andere religiöse und intellektuelle Strömungen fallen vollständig heraus, wodurch ein stark staatenzentriertes und politiklastiges Porträt des Islams in dieser Region entsteht.
Der Beitrag von Carter Vaughn Findley zum Osmanischen Reich (31-78) bietet demgegenüber eine Synthese der osmanischen Reformbestrebungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, in der auf fast jeder Seite innovative Einsichten zu finden sind. "Islam" taucht hierbei allerdings fast ausschließlich als Bestandteil von Legitimationsstrategien der osmanischen Staatsmänner auf. Originäre Leistungen der spätosmanischen Zeit in den Bereichen Recht und Theologie, zum Beispiel die Kodifizierung islamischen Rechts in der sogenannten Mecelle (1870-77) oder die Erarbeitung neuer Curricula für die religiöse Ausbildung, werden nur beiläufig erwähnt.
Humayun Ansaris Beitrag zu "Islam im Westen" (686-716) weist eine ähnliche Gliederung auf wie Tripps Beitrag zu Westasien. Höchst informative Abschnitte werden hier aber eingerahmt von Ausführungen mit apologetischer Tendenz, die erkennen lassen, dass der Beitrag in einer Zeit stark politisierter Debatten um "den Islam" entstanden ist. "Islam" meint in diesem Beitrag meist ein identitätsstiftendes kulturelles Erbe muslimischer Bevölkerungsgruppen, das mit verschiedenen Strategien gegen Wertvorstellungen, Stereotypen und Vorurteile westlicher Mehrheitsgesellschaften verteidigt werden musste. Es ist bedauerlich, dass die Entwicklungen in den muslimischen Gemeinden in Deutschland in diesem Beitrag kaum Beachtung finden.
Bei aller Kritik im Detail sind die Beiträge in Band V der New Cambridge History of Islam durchweg von hoher Qualität. Sprachlich sind sie angenehm unprätentiös gehalten, so dass sie auch für Laien mit allgemeiner historischer Vorbildung gut verständlich sein dürften. So wird sie sich, gemeinsam mit dem ergänzenden Band VI, wohl auch im deutschsprachigen Raum als ein verlässliches Referenzwerk zur modernen Geschichte islamisch geprägter Gesellschaften etablieren können. Eine integrierte Geschichte der modernen islamischen Welt als Weltgeschichte, jenseits von Länderstudien, bleibt allerdings weiterhin ein erstrebenswertes Fernziel.
Johann Büssow