Rüdiger vom Bruch (Hg.): Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910 (= Schriften des Historischen Kollegs; 76), München: Oldenbourg 2010, XVII + 259 S., ISBN 978-3-486-59710-3, EUR 59,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Marion Keller: Pionierinnen der empirischen Sozialforschung im Wilhelminischen Kaiserreich, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2018
Stefan Paulus: Vorbild USA? Amerikanisierung von Universitäten und Wissenschaft in Westdeutschland 1945-1976, München: Oldenbourg 2010
Hans-Christof Kraus: Kultur, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert, München: Oldenbourg 2008
Rüdiger vom Bruch / Rainer A. Müller (Hgg.): Historikerlexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart, 2. neu bearb. und erw. Auflage, München: C.H.Beck 2002
Uwe Hoßfeld u.a. (Hgg.): "Kämpferische Wissenschaft". Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003
Rüdiger vom Bruch: Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Deutschen Kaiserreich. Hrsg. v. Hans-Christoph Liess, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005
Genauere Betrachtung führt gelegentlich dazu, dass Gewissheiten sich auflösen und Konturen verschwimmen. So ergeht es derzeit der "Humboldtschen Universität". Während Politiker, die an der Veränderung der Universitäten arbeiten, Wilhelm von Humboldt nach wie vor im Munde führen, wird "Humboldt-Universität" als analytische Kategorie oder Leitbild von der historischen Forschung zunehmend in Frage gestellt, die "Humboldt-Universität" zur "erfundenen Tradition" (Paletschek). Gegen eine lange Zeit postulierte Vorbildfunktion der Berliner Universitätsgründung betont die Forschung inzwischen Eigengewicht und Vielfalt der Universitäten in den deutschen Ländern. Von einer "deutschen Universitätslandschaft" spricht folgerichtig Rüdiger vom Bruch, in deren Kontext nicht die Berliner Universität als Institution, sondern vielmehr die "Idee der deutschen Universität als permanenter Forschungsprozeß" (VII) zu verorten sei. In dem hier anzuzeigenden Sammelband, der auf eine Tagung im Münchener Historischen Kolleg zurückgeht, wird denn auch nicht die Institution Berliner Universität, die ihre Gründung entscheidend der politischen Leistung Wilhelm von Humboldts verdankt, in den Mittelpunkt gestellt, sondern das Konzept der Universität als Wissenschaftsinstitution, die sich primär in den Professoren verkörpere - durch eigene Forschung und durch die Vermittlung ihrer Forschungsergebnisse sowie des wissenschaftlichen Habitus an die Studierenden.
Notker Hammerstein bettet die mit der Gründung der Berliner Universität 1810 verbundene neuhumanistisch-idealistische Universitätsreform in eine Reihe von Universitätsreformen ein, die ein Kennzeichen und Distinktionsmerkmal der Institution Universität im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation ausmache. Die Berliner Neugründung stand in der bis ins Spätmittelalter zurückreichenden institutionellen Tradition der Universität, deren Strukturen sie weitgehend aufgriff, indem sie als Volluniversität mit vier Fakultäten gegründet wurde. Gerade darin lag jedoch zugleich ihr Innovationspotential, da hier bewusst nicht an das französische Modell der Spezialschulen mit ausgeprägter praktischer Zwecksetzung angeknüpft wurde. Vielmehr wurde die Idee der Universität als Forschungsanstalt und als Institution der Selbstbildung der Lernenden und Lehrenden aller Fakultäten postuliert. Diese habe sich von der philosophischen Fakultät ausgehend auch in den höheren Fakultäten durchgesetzt.
In einer vergleichenden Untersuchung der drei preußischen Universitätsgründungen von Berlin (1810), Breslau (1811) und Bonn (1818) zeigt Thomas Becker, dass trotz anderer Gründungsmotive und Zielsetzungen in der Struktur doch viele Parallelen zur Berliner Universität bestanden, dieser also eine "klare Vorbildrolle für Breslau und Bonn zukam" (67). Eine autonome, dabei teilweise von ähnlichen Prinzipien geleitete Entwicklung beschreibt Hans-Werner Hahn für die Universität Jena in einem Beitrag, der die Ergebnisse der umfangreichen universitätsgeschichtlichen Untersuchungen zusammenfasst, die im Zusammenhang mit dem 450jährigen Jenaer Universitätsjubiläum 2008 entstanden sind. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts stieg die Anziehungskraft der zuvor in einer ernsten Krise befindlichen Universität Jena durch eine unkonventionelle Rekrutierungspolitik, die die universitären Strukturen teilweise umging. Die Ordinariate wurden durch Extraordinariate ergänzt, auf die junge, innovative Forscher berufen wurden. Dadurch entstand eine intellektuell und literarisch inspirierende Atmosphäre, die eine wachsende Zahl auch auswärtiger Studenten anzog. Als nach der Niederlage von Jena und Auerstedt 1806 die Jenaer Universität einer stärkeren staatlichen Kontrolle unterworfen wurde, wollte Goethe als Weimarer Kultusminister ebenso wie wenige Jahre später sein Berliner Amtskollege Wilhelm von Humboldt das deutsche Universitätsmodell weiterentwickeln, statt es durch das französische Spezialschulmodell zu ersetzen.
Für das badische Freiburg und das württembergische Tübingen übte die Berliner Neugründung keine Vorbildwirkung aus, wie Sylvia Paletschek in ihrem Beitrag ausführt. Die Reformphase in den Jahrzehnten um 1800 folgte dem Wunsch nach einer besseren Ausbildung der künftigen Staatsdiener und Mediziner, man orientierte sich eher an Universitäten ähnlicher Größe und in der näheren Umgebung als an Berlin. Der Aufstieg Berlins zur größten und renommiertesten Universität im Laufe des 19. Jahrhunderts sei vor allem auf Standortfaktoren wie die Nähe zur Politik, den Verbund mit außeruniversitären Wissenschaftseinrichtungen und eine bessere finanzielle Ausstattung zurückzuführen. Die Universität Berlin war, so Paletscheks Fazit, "'Primus inter pares' unter den deutschen Universitäten, aber kein Vorbildmodell oder das herausragende, die Wissenschaftsentwicklung bestimmende Zentrum des deutschen Universitätslebens" (236).
In einem institutionenübergreifenden Beitrag umreißt Matthias Stickler übersichtsartig den Forschungsstand zur Studentengeschichte im 19. Jahrhundert. Ein Ergebnis der idealistisch-neuhumanistischen Universitätskonzeption war es, dass aufgrund der Lehr- und Lernfreiheit die Erziehung und Habitusformierung der Studenten, wie sie etwa an englischen Colleges üblich blieb, aus der Universität herausverlagert wurde und in der Regel in Studentenverbindungen stattfand. Dort bedeutete "Universität als Lebensform" für die Studenten oftmals nicht die dem neuhumanistischen Bildungsprogramm entsprechende, vom Intellekt bestimmte Selbstbildung durch Wissenschaft, sondern eine Zeit bierseliger Bummelei. Als die dominierende Form studentischen Gemeinschaftslebens seien die Studentenverbindungen ein "integrale[r] Bestandteil des Universitätssystems" (175) im 19. Jahrhundert und sollten daher, so Sticklers Plädoyer, stärker von der Forschung beachtet werden.
Als Ausdruck des institutionellen Selbstverständnisses beschreibt Winfried Müller die Universitätsjubiläen, die im 19. Jahrhundert zunehmend inszeniert wurden, einen stärkeren Öffentlichkeitsbezug annahmen und Gelegenheit zur Formulierung von Geltungsansprüchen und Zukunftskonstruktionen boten. Auch heute noch dienen Universitätsjubiläen der Selbstvergewisserung, und sie bieten Anlass zu intensiver Forschung. Einige der in dem Band versammelten Ergebnisse gehen auf Universitätsjubiläen der letzten Jahre zurück - darunter diejenigen von Freiburg, Jena und Leipzig. Zu welch fruchtbaren Ergebnissen dies führen kann und welche Anregungen hieraus für weitere Forschungen erwachsen können zeigt eindrucksvoll dieser Band, der selbst im Zusammenhang mit dem Jubiläum der Berliner Humboldt-Universität entstanden ist.
Barbara Wolbring