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Avraham Milgram: Portugal, Salazar and the Jews, Jerusalem: Yad Vashem 2011, 324 S., ISBN 978-965-308-387-5, USD 44,00
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Rezension von:
Ursula Prutsch
München
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Empfohlene Zitierweise:
Ursula Prutsch: Rezension von: Avraham Milgram: Portugal, Salazar and the Jews, Jerusalem: Yad Vashem 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 9 [15.09.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/09/21088.html


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Avraham Milgram: Portugal, Salazar and the Jews

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Tausende europäische Juden durchquerten auf ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten das autoritär regierte Portugal. Eine Aufenthaltsgenehmigung erhielten sie bis 1944 nicht. António Salazars politische Polizei überwachte und lenkte sie in Wartesäle wie Lissabon, Porto oder Figueira da Foz. War das Aufenthaltsverbot ein Resultat antisemitischer Überzeugungen oder einer vorsichtigen, pragmatischen Politik eines südeuropäischen Landes, das bis 1945 neutral blieb? Konnte und wollte Portugal nach der sich abzeichnenden Niederlage Hitler-Deutschlands die Möglichkeit von Hilfestellungen überhaupt ausschöpfen? Dies sind zwei Kernfragen der Monografie über Portugal, Salazar und die Juden, verfasst vom israelischen Historiker und Portugal-Kenner Avraham Milgram. Gleich im historischen Rückblick auf Inquisition, Absolutismus und das Leben der kleinen jüdischen Gemeinde macht Milgram deutlich, wie sehr ihm daran gelegen ist zu zeigen, dass Antisemitismus keine Säule war, auf der die Politik Portugals und des Estado Novo ruhte, sondern sich auf einige wenige Akteure (wie den Führer des Integralismo Lusitano) beschränkte. Diese hatten jedoch - wie in Italien auch - keine Mobilisierungsfunktion. Schon in der frühen Konsolidierungsphase des Estado Novo entmachtete Salazar die schwache faschistische Bewegung der Blauhemden von Rolão Preto, so dass er nie die Zugeständnisse eingehen musste wie sein Nachbar Francisco Franco, dessen politisches System noch dazu auf dem Erbe eines verheerenden Bürgerkriegs errichtet worden war.

Milgram bietet in vier Kapiteln eine Fülle minutiös recherchierter biografischer und institutioneller Geschichten, er beschreibt Flüchtlingsschicksale, Kindertransporte, zionistische Ideen und Sardinen-Carepakete nach Warschau und Auschwitz. Er analysiert den Kampf um Durchreisevisen vor dem Hintergrund innen- und außenpolitischer Strategien und Machtkämpfe. Er legt die Gründe dar, warum die Versuche scheiterten, portugiesische Juden aus den besetzten Niederlanden nach Israel zu retten und warum jene Handvoll aus Griechenland es schließlich doch bis Portugal schaffte. Die Einstellung der portugiesischen Gesellschaft gegenüber Fremden wird ebenso kritisch reflektiert wie die Politik, das Engagement und die kriegsnotwendige Flexibilität zahlreicher Flüchtlingshilfeorganisationen, von denen ein paar sich durch Rivalitäten lähmten.

Eine Konstante der Darstellung bildet die ambivalente Haltung vieler Entscheidungsträger gegenüber jüdischen Flüchtlingen, die von Fremdenhass, Antisemitismus und administrativer Gnadenlosigkeit oder von humanitärem Mut geprägt war. Ein Beispiel dafür ist die Suspendierung des Diplomaten Aristides Sousa Mendes, der in Marseille fast 3000 Flüchtlingen zu einer Zeit rettende Durchreisevisa ausstellte, in der dies für Juden verboten war. Der Politik mutiger Diplomaten standen die zum Teil antisemitische Haltung des mächtigen Polizei- und Sicherheitsapparates der Policía de Vigilancia e Defesa do Estado und das machtpolitische Denken Salazars entgegen. Allerdings hebt Milgram durch paradigmatische Vergleiche etwa mit Spanien und Brasilien immer wieder die geringe Rolle hervor, die Antisemitismus in dieser strikten Flüchtlingspolitik spielte - in vielem durchaus zu Recht, wenn etwa betont wird, dass Portugal im Gegensatz zu Spanien den jüdischen Flüchtlingsorganisationen erlaubte, im Land zu arbeiten.

Doch gelegentlich verwundert diese Argumentation in dem sonst so analytisch und durchaus Salazar-kritisch verfassten Werk. Wie der Autor und vor allem Jeffrey Lesser [1] in früheren Publikationen erarbeitet haben, war die Einwanderungsgesetzgebung in Brasilien Ende der 1930er Jahre zwar erklärt antisemitisch, doch kamen trotzdem durch eine Mischung von Korruption und humanitärem Engagement etwa 12.000 bis 15.000 deutschsprachige Flüchtlinge ins Land. Diese durften dort auch verbleiben. Der Vargas-Diktatur, die strukturell viele Ähnlichkeiten zu Portugal aufwies, boten die Flüchtlinge wissenschaftliche Kompetenz und Toleranzdekor, weshalb sie zum Teil in kulturpolitische Projekte eingebunden wurden und ganze Universitätsinstitute aufzubauen halfen. Brasilien war ein Einwanderungsland mit vielversprechendem Potenzial und ab 1942 an alliierter Seite in den Krieg eingetreten, während das arme, ethnisch homogene Portugal neutral blieb - das könnte den Unterschied zwischen beiden Ländern erklären; allerdings besaß Portugal ein Kolonialreich.

Milgram lässt den oft kryptischen Salazar immer wieder zu Wort kommen, und dessen Argumente gegen die Aufnahme von Flüchtlingen waren bis Mitte 1944 stets dieselben: äußerste Vorsicht gegenüber allem Fremden, das sein Werk des Neuen Staates und die Neutralität des Landes gefährden könnte. Salazar war wohl kein Antisemit, doch er war eminent xenophob, und dies hätte Milgram viel stärker herausarbeiten können. In seiner Xenophobie assoziierte Salazar das Jüdische auch mit politischen Ideologien wie Kommunismus und Sozialismus sowie mit Liberalismus, Kapitalismus und Urbanität. All dies war dem agrarromantischen Katholiken, dem Ordnung und Kontrolle als höchste Prinzipien galten, zuwider, selbst wenn er Staat und Kirche trennen und den Bau einer Synagoge autorisieren ließ.

Der Salazarismus verfolgte konsequent das Weltbild eines bewusst abgeschotteten, "armen, aber glücklichen Landes" in Europa, dessen Selbstverständnis auch auf seinem konsiderablen Kolonialreich basierte. Rassismus gegenüber dessen autochthoner Bevölkerung war ebenso Teil des Systems wie ein effizienter Polizei- und Zensurapparat. Portugal verweigerte sich strikt den Plänen, jüdische Flüchtlinge in seine Kolonien Mosambik und Angola aufzunehmen, wie sie etwa von Präsident Roosevelt favorisiert wurden. Die Neutralität des Landes, die vor allem auf einer jahrhundertealten Allianz mit Großbritannien und lukrativen Wolfram-Exporten ins Deutsche Reich basierte, wäre meiner Meinung nach nicht gefährdet gewesen, wenn es für das Mutterland und die Kolonien Aufenthaltsvisa angeboten hätte. Salazar erklärte sich, wie Milgram nachweist, erst ab Mitte 1944 zur Aufnahme einiger hundert nicht-portugiesischer jüdischer Flüchtlinge aus Ungarn bereit, als sich die Niederlage Hitler-Deutschlands und die Gefahr abzeichneten, nach dem Krieg von den Siegermächten isoliert zu werden. Von organisierten Massenmorden an Juden hatte man seit Ende 1941 gewusst.

Es wäre hilfreich gewesen, wenn der Autor in einem einleitenden Kapitel auf die Säulen und Ideologien des Salazarismus stärker eingegangen wäre. Man muss mit der Geschichte des Estado Novo einigermaßen vertraut sein, um die Stärken des durchwegs gut recherchierten Buches schätzen zu können, das neue und detaillierte Einsichten in die Geschichte von jüdischer Flucht und Flüchtlingsschicksalen im Zweiten Weltkrieg bietet, bei der sich individuelles humanitäres Engagement und Mut genauso zeigten wie Xenophobie und machtpolitisches Denken und Handeln. Milgrams Werk regt gerade durch seine Kernfragen zu weiteren Debatten an und trägt überdies dem wieder erwachten Interesse an Portugal im Kontext autoritärer Regime in Europa Rechnung.


Anmerkung:

[1] Jeffrey H. Lesser: Welcoming the Undesirables. Brazil and the Jewish Question, Berkeley 1995.

Ursula Prutsch