Petr Charvát: The Emergence of the Bohemian State (= East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450-1450; 13), Leiden / Boston: Brill 2010, XVIII + 239 S., ISBN 978-90-04-18009-3, EUR 110,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die 2007 im tschechischen Original [1] erschienene Studie holt sehr weit aus, um die "Geburt" der přemyslidischen Herrschaftsbildung, des "Bohemian State" oder "státu českého", aufzuhellen. So wird der Leser über mehr als die Hälfte des Buches zunächst durch eine germanische und slawische Frühzeit geführt, die für sich zweifellos interessant ist und von Petr Charvát kenntnisreich - wenn auch nicht ohne Abschweifungen - erzählt wird, von der man sich aber doch fragen muss, was sie denn mit der "Emergence of the Bohemian State", ja mit den "beginnings of the Bohemian nation" (5), die Charvát mit derselben geradezu gleichsetzt, zu tun hat. Denn eine wie auch immer geartete teleologische Kontinuität von den keltischen Bojern über germanische Bevölkerungsgruppen und slawische Zuwanderer des 6.-7. Jahrhundert bis zum böhmischen Herrschaftsgebilde der Přemysliden wird man heute kaum noch ernsthaft unterstellen können.
So muss sich der Leser bis weit in das dritte der vier Buchkapitel durch eine Vorgeschichte voller Hypothesen hindurcharbeiten, um ab circa Seite 105 in jene Jahrzehnte des 9. Jahrhundert zu gelangen, für die sich in den Quellen erste Spuren böhmisch-frühpřemyslidischer Herrschaftsverdichtung finden, mit denen sich im Grunde erst eine verlässliche Auseinandersetzung mit den Ursprüngen des "Bohemian State" beginnen lässt. Die folgenden 30 Seiten erweisen sich denn auch als der eigentliche originelle, interessante Teil des Buches, während sich das vierte Kapitel (137-205) in einer wenig Neues bietenden, etwas eklektischen ereignisgeschichtlichen Narration erschöpft, die in der Feststellung gipfelt, dass "the long story of the establishment of the Bohemian state" ihren Abschluss 1039 mit dem Überfall Břetislavs auf das piastische Polen, die translatio der Gebeine des heiligen Adalbert nach Prag und die (vermeintlich) in Gnesen erfolgte Verkündung des "most ancient code of laws of medieval Bohemia" gefunden habe, wobei sich Herzog Břetislav als "an accomplished thinker, manager and statesman" erwiesen habe (202 f.).
Kann der faktografische Durchgang durch das "Long Tenth Century" mithin allenfalls als nützlicher Überblick angesehen werden, so regt das im dritten Kapitel im Hinblick auf die Anfänge der böhmischen Herrschaftsbildung entwickelte Erklärungsmodell - auch wenn es auf einer ebenfalls etwas weit hergeholten indoeuropäischen Parallele aufbaut - durchaus zum Nachdenken und zur Auseinandersetzung an. Nach diesem Modell soll die der přemyslidischen "Staatsbildung" zugrunde liegende Doktrin auf eine alte indoeuropäische Vorstellung von souveräner Herrschaft zurückgehen. Diese sei von Zuwanderern aus dem Osten und/oder Südosten mitgebracht worden, die sich im 9. Jahrhundert in Böhmen niedergelassen und rasch den einheimischen Slawen assimiliert hätten. Um in dieser Situation die angestammten Machtpositionen zu bewahren, hätten sich Vertreter der einheimischen sozialen Gruppen an einem herausgehobenen Ort, dem späteren Prag, zusammengefunden und - von den Zuwanderern inspiriert oder aus alten indigenen Traditionen heraus - das alte indoeuropäische Ritual der Hoheitsbeanspruchung über das Land ("the ancient Indo-European ritual of claiming suzerainty over the land") durchgeführt (114). Dieses Ritual habe nicht nur bestimmte topografische Bedingungen erfordert, die der Prager Burgberg geboten habe, sondern sei auch mit der indoeuropäischen Gottheit Mithra verbunden gewesen, der am höchsten Bergpunkt eine columna mundi geweiht worden sei. Als in den 880er Jahren ein jüngerer Zweig des Přemysliden-Clans die Herrschaft übernommen habe, sei der Mithra geweihte Stein (columna mundi) in jenen Steinthron in medio castri Pragensis umgewandelt worden, auf dem die Přemyslidenfürsten jeweils mit der souveränen Herrschaft über Böhmen investiert wurden. Spätestens Herzog Wenzel I. (921-935) habe dieses Herrschaft konstituierende Inthronisationsritual "verchristlicht": Indem er an der entsprechenden Stelle eine Kirche errichtete, den ersten Vorgängerbau der Sankt Veits-Kathedrale, habe er die heidnische Gottheit der christlichen Lehre und sich selbst unterstellt beziehungsweise die alte indoeuropäische Vorstellung von Oberherrschaft in eine neue, christliche Lehre von einer Herrschaft gemäß dem Willen Gottes transformiert. Spuren dieser Transformation bzw. der ursprünglichen Vorstellung glaubt Charvát (mit Duśan Třestίk) in der (auf Siegelumschriften begegnenden) pax ducis/regis in manu Wencezlai sowie in dem von der freien Bevölkerung abzuführenden tributum pacis entdecken zu können (da die slawische Übersetzung von pax = mir auf die mittelpersische Variante von Mithra, Mihr, zurückgeführt werden könne). Man muss von diesem Zusammenhang nicht unbedingt überzeugt sein, um Charváts Überlegungen zum Übergang von vorchristlichen zu christlichen Herrschaftsvorstellungen und -repräsentationen (soweit solche für das 10. Jahrhundert greifbar sind) etwas abzugewinnen. Es könnte jedenfalls durchaus lohnend sein, diesem Ansatz weiter nachzugehen und sich dabei in breiterer komparatistischer Perspektive auch den von Charvát nur kursorisch herangezogenen Parallelen (Lutizen, Piasten, Schotten) eingehender zu widmen.
Anmerkung:
[1] Petr Charvát: Zrod českého státu. 568-1055 [Die Geburt des tschechischen Staates. 568-1055], Praha 2007
Eduard Mühle