Aimée Brown Price: Pierre Puvis de Chavannes, New Haven / London: Yale University Press 2010, 2 vol., X + 745 S., ISBN 978-0-300-11571-0, GBP 125,00
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Das enorm hohe Ansehen, das Pierre Puvis de Chavannes zu Ende des 19. Jahrhunderts in den Augen der Künstler und Kritiker aller Lager genoss, schwand nach dem ersten Weltkrieg so rapide, dass ihn Daniel Catton Rich 1935 bereits zum "minor artist" herabstufen konnte, bevor er schließlich vollständig in der Versenkung verschwand. [1] Die Kunstgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts fand in ihrer linearen Geschichte der Moderne schlicht keinen Platz für einen Künstler, der mit seinen großen Dekorationen die offiziellen Gebäude der 3. Republik ausschmückte und damit dem Prinzip der schrittweisen Autonomisierung der Kunst entgegenstand. Die Künstler hingegen haben nie aufgehört, Puvis de Chavannes zu lieben und dies hat ihm schließlich die Wiederentdeckung der Kunsthistoriker beschert, die den durch die Verehrung von Gauguin und den Nabis, Seurat und Cézanne, Matisse und Picasso geadelten Künstler nun aus der Perspektive der Moderne zu sehen begannen. Die Ausstellung "Puvis de Chavannes and the Modern Tradition", die Richard Wattenmaker 1975 in Toronto organisierte, machte hier den eindrucksvollen Anfang; ihre historiografische Mission, Puvis seinen Platz in der Geschichte der Moderne einzuräumen, spitzte die Ausstellung "Toward Modern Art. From Puvis de Chavannes to Matisse and Picasso" von Serge Lemoine 2002 in Venedig noch zu. [2]
Auf diese wechselvolle Wertschätzung ist es sicherlich zurückzuführen, dass es bislang weder einen Werkkatalog noch eine ausführliche Monografie des Künstlers gab - eine Lücke, die Aimée Brown Price mit ihrer 2010 in der Yale University Press veröffentlichten Publikation schließt. [3] Frucht einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Künstler, welche mit ihrer unveröffentlichten Dissertation 1972 einsetzte, verbindet das zweibändige Werk eine Monografie (Band 1: The Artist and His Art) mit einem Catalogue Raisonné der Gemälde (Band 2: A Catalogue Raisonné of the Painted Work). Zu den Neuentdeckungen für die Forschung zählen subtile Portraits von Familienmitgliedern (Kat. 89, Kat. 90) aus dem Privatbesitz der Familie sowie einige eindrucksvolle Landschaftsgemälde (Kat. 266, 349). Die Autorin bildet zudem im ersten Band vormals unbekannte, superbe Landschaftsaquarelle aus Privatsammlungen ab (Abb. 103-107; Abb. 132-135, 138-142) - eine Gattung und Technik, die bislang spärlich in Puvis' Œuvre vertreten zu sein schien. Auch kann sie durch zeitgenössische Fotografien verlorengegangene Gemälde dokumentieren (Kat. 79).
Die Katalogeinträge des Catalogue Raisonné sind reichhaltig mit Vorzeichnungen zu den Gemälden und Vergleichsabbildungen bestückt. Große, signierte Entwurfszeichnungen auf Leinwand oder Seide, wie die des ersten Zyklus der Sainte Geneviève aus dem Panthéon (Kat. 211-221), werden als eigenständige Werke den Gemälden gleichgestellt und erhalten eine eigene Katalognummer. Die vorbereitenden Ölskizzen erhalten eine je eigene Katalognummer, die der der Dekorationsgemälde, auf die sie sich beziehen, vorangehen, auf diese folgen dann die Staffeleigemäldevariationen der Dekorationen, welche zumindest möglicherweise zeitnah entstanden sind, auch wenn die Datierungsspanne häufig mehrere Jahre umfasst. Später datierte reduzierte Versionen der großen Dekorationen werden hingegen der chronologischen Folge gemäß angeführt (Kat. 356 und Kat. 430).
Auch der monografische Band 1 folgt einer streng chronologischen Gliederung mit einem Kapitel zur Kindheit und Ausbildungszeit sowie je einem zu den Jahrzehnten seiner künstlerischen Produktion, von den 1850er- bis zu den 1890er-Jahren. Dies begründet wahrscheinlich auch den nicht ganz nachvollziehbaren Entschluss, in dieser ersten veritablen Monografie und diesem ersten Werkkatalog gänzlich auf eine überblickshafte Biografie zu verzichten. Price entwickelt anhand zahlreicher Dokumente ein eindrucksvolles Panorama vom sozialen, künstlerischen und institutionellen Umfeld des zurückgezogen lebenden Künstlers. Insbesondere gelingt es ihr, der Person des so diskreten Künstlers mithilfe von Briefen eine plastische Gestalt zu verleihen. Zum Verständnis des künstlerischen Werks und als roter Faden für die Darstellung desselben dienen Aimée Brown Price zwei Schlüsselbegriffe: Der des Klassizismus und der der "Mural Aesthetic" - also der Ästhetik der Wand(dekoration). Aufbauend auf ihre früheren Arbeiten stellt die Autorin überzeugend die Entwicklung von Puvis' dekorativer Ästhetik in den 1850er- und 1860er-Jahren in den Zusammenhang der zeitgenössischen Debatte um die Erneuerung der Wandmalerei und betont die Bedeutung des Vorbilds Théodore Chassériaus. Der Klassizismus, den Puvis seit den 1860er-Jahren einsetzte, sei eine adäquate Formel gewesen, bei Wahrung der Konventionen seine eigene, idiosynkratische "Wand-Ästhetik" zu entwickeln. Für die Darlegung und Entwicklung ihrer Ausgangsthese erweist sich jedoch das rigide chronologische Prinzip als hinderlich. So greift die Autorin in jedem der Kapitel, für jedes Jahrzehnt erneut den Unterpunkt der "Wand-Ästhetik" auf und verfolgt abschnittsweise ihre Entwicklung. Dies führt zu Redundanzen, die den Lesefluss stören. Folgenreicher ist diese Entscheidung jedoch für die Diskussion der Hauptthese und damit das Grundverständnis von Puvis' Kunst. Denn anstatt die bedeutsame Frage nach der Ausbildung einer werkbestimmenden Ästhetik im Zusammenhang und grundlegend zu diskutieren, zerfällt sie ins Fragmentarische: Lässt sich die "Wand-Ästhetik" mal mit dem Medium begründen (1860er-Jahre), mal mit den Erfordernissen religiöser Sujets (1870er), so ist sie ein anderes Mal als eigenständiges, piktoriales Idiom einem Selbstzweck verpflichtet (1880er), und ist ein weiteres Mal auf die Auftragspolitik zu beziehen und dient der Volkserziehung (1880er). Die "Wand-Ästhetik" bleibt dabei eigenartig unkonturiert als leerer Begriff stehen, ihre Eigenschaften wie Flächigkeit, Unverbundenheit, die weißlichen, matten Farben werden als bloß formale Mittel gefasst, die einzig der behutsamen Erneuerung des Mediums Wandmalerei im Rahmen des klassizistischen Gewandes dienen.
Aimée Brown Prices Postulat, Puvis' gesamtes Werk ziele auf eine klassizistische "Wand-Ästhetik" hin, führt sie zu einer Gegenüberstellung von Staffeleibildern und Dekorationen. Obgleich sie beschreibt, wie Puvis in der Wende von den 1870er- zu den 1880er-Jahren eine schöpferische Krise überwand, indem er im kleinen Format die Erneuerung des Ausdrucks erproben konnte (93), schließt sie aufgrund der melancholischen Stimmung der drei Hauptwerke jener Zeit, "Jeunes Filles", "L'Enfant prodigue" und "Pauvre Pêcheur", auf einen "dualism between Puvis' public murals and private, independent paintings" (101). Price übersieht dabei, dass Puvis die in den Staffeleibildern entwickelten verhaltenen Gesten der Figuren als wesentliche Ausdrucksmittel in den späteren Dekorationen einsetzt, wobei sie - der Eigenart des jeweiligen Mediums folgend - einer vergleichbaren künstlerischen Ästhetik dienen. [4] Price schließt hingegen, das Interesse der jüngeren Künstler an Puvis gründe auf den Staffeleibildern und sei deshalb einem Missverständnis unterworfen, da: "These smaller works made his aesthetic seem all the more boldly original" (135). Auch eine Implikation Puvis' in den Symbolismus lehnt die Autorin im Hinblick auf eine "Wand-Ästhetik" ab, wobei sie der Frage zusammengenommen nicht einmal eine ganze Seite (140f.) widmet und den Symbolismusbegriff unnötigerweise auf Symbol- und Ideenmalerei einengt. Eine erweiterte Definition von Symbolismus wäre hilfreich gewesen, um die Zielrichtung von Puvis' piktorialem Idiom zu klären. Die Untersuchung von Puvis' künstlerischem Umfeld bleibt merkwürdig blass, sein Kontakt zu jüngeren Künstlern wird letztlich auf rein biografischer Ebene verhandelt.
Die Stärken der Monografie liegen im genauen Studium und der souveränen Auswertung unterschiedlichster Papiere, Quellen und Berichte, dank derer auch die Rolle des Künstlers in Kunstbetrieb (130ff.) und Kunstmarkt (133ff.) und dadurch deren Mechanismen deutlich werden. Dies führt zu einer differenzierten Betrachtung des Verhältnisses von Avantgarde und Konservativismus. Puvis stand jenseits der Akademie, war aber dennoch eher konservativ, er war ein Freund der Erneuerer, aber partikular - wobei man hinzufügen möchte, dass in dieser Partikularität auch der Anspruch einer ganz neuen künstlerischen Ästhetik lag, der Puvis ganz zu Recht und nicht aus produktivem Missverständnis zum artist's artist machte - wie es Price selbst in der Einleitung bezeichnete. Die Bände sind ein Meilenstein für die Forschung, doch verändern sie das bisherige Bild des Künstlers nicht grundlegend.
Anmerkungen:
[1] Daniel Catton Rich: Seurat and the Evolution of 'La Grande Jatte', Chicago 1935, 47.
[2] Richard J. Wattenmaker (ed.): Puvis de Chavannes and the Modern Tradition (Ausst.-Kat. Toronto, Art Gallery of Ontario 1975), Toronto 1975; Serge Lemoine (ed.): Toward Modern Art. From Puvis de Chavannes to Matisse and Picasso (Ausst.-Kat. Venedig, Palazzo Grassi 2002), New York 2002.
[3] Bislang lag die bruchstückhafte, aus dem Nachlass von Brian Petrie herausgegebe Monografie vor: Brian Petrie: Puvis de Chavannes, ed. by Simon Lee, Aldershot [u.a.] 1997; die perspektivisch zugespitzte Abhandlung von Jennifer Shaw: Dream States: Puvis de Chavannes, Modernism, and the Fantasy of France, New Haven / London 2002 sowie vier monografische Ausstellungen seit 1976.
[4] Vgl. Kerstin Thomas: Welt und Stimmung bei Puvis de Chavannes, Seurat und Gauguin, Berlin / München 2010.
Kerstin Thomas