Gabriel P. Weisberg (Hg.): Illusions of Reality. Naturalismus 1875-1918, Stuttgart: Belser Verlag 2010, 223 S., 234 Farbabb., ISBN 978-3-7630-2577-0, EUR 49,95
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Seien wir realistisch: Der Begriff "Realität" ist so abhängig von seinen Kontexten, dass er ohne sie fast bedeutungsleer wird. Dem "Naturalismus" ergeht es nicht besser und wenn im Ausstellungs- und Katalogtitel des hier vorgestellten Bandes beide Begriffe vollmundig und zweisprachig zu Illusions of Reality. Naturalismus verknüpft werden, dann geben wir uns keinen Illusionen hinsichtlich der Trennschärfe der Begriffe hin, sondern begreifen sie als geschickte Marketingmaßnahme. Delikater wird es, wenn im Untertitel der Ausstellungen im Van Gogh Museum in Amsterdam und dem Ateneum Art Museum in Helsinki mit der Begriffsreihe Malerei, Fotografie und Film unausgesprochen die berühmte gleichnamige Bauhaus-Publikation László Moholy-Nagys von 1925 zitiert wird. [1]
Der Herausgeber dieses in sechs Sprachen veröffentlichten Katalogs, Mercatorfonds in Brüssel, bekannt für seine opulenten Kunstbände, ist auch in Bezug auf den Naturalismus im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert nicht zurückhaltend: 60 ganzseitige Abbildungen einzelner Werke und 29 ganzseitige Detailabbildungen zoomen die Gemälde ins Auge des Betrachters bis es weh tut, denn viele der Gemälde zeichnen sich schon im Original durch eine "kompromisslose Nähe" (116) der Bildgegenstände zum Betrachter aus. Der appellative, anklagende oder belehrende Charakter vieler naturalistischer Darstellungen vor allem der Armen und Stigmatisierten der Gesellschaft wird durch die Detailvergrößerungen im bestens ausgestatteten Kunstband übermäßig eindringlich. Zugleich drängt sich ein Widerspruch auf, der schon in der Zeit der Entstehung der Gemälde kaum zu überbrücken war: Naturalismus war Salonkunst und es waren gebildet-bürgerliche Betrachter und potenzielle Käufer, die an den Bilderwänden entlang flanierten.
Die Katalogtexte hat zu zwei Dritteln der Initiator und Kurator von Illusions of Reality: Naturalismus und Malerei, Fotografie und Film, 1875-1918 verfasst, Gabriel P. Weisberg, Professor für Kunstgeschichte an der University of Minnesota, der Mitte der 1970er-Jahre mit der Erforschung und Rehabilitierung der Kunst des 19. Jahrhunderts begann, die wahlweise mit den Begriffen "Genre", "Salonkunst", "Realismus", "Naturalismus" und "Narrative Art" belegt wurde. Er hat mit Büchern und Ausstellungskatalogen wie The Realist Tradition. French Painting and Drawing 1830-19008 [2] und Beyond Impressionism: The Naturalist Impulse [3] Grundlagenarbeit geleistet und die europäische Kunst des 19. Jahrhunderts in Nordamerika bekannt gemacht. Darüber hinaus ist er als Sammler von Handzeichnungen hervorgetreten, die zum Teil dem Minneapolis Institute of Arts übereignet wurden. [4] Gemeinsam mit seiner Frau Yvonne Weisberg, mit der ihn bei der Vorbereitung viele Kataloge auch die gemeinsame Autorschaft verbindet, ist er als unermüdlicher Fürsprecher der naturalistischen Bildkünste des 19. Jahrhunderts hervorgetreten. Dabei implizierte der Blick nach Europa immer auch die Verankerung und Aufwertung der breit gefächerten Spielarten des Naturalismus in Nordamerika.
Noch heute stellt "[e]ine genaue Darstellung der Naturalismustheorie bezüglich der Malerei und Bildhauerei im internationalen Kontext [...] ein Desiderat der Forschung dar" konstatiert Boris Röhrl in seiner Kunsttheorie des Naturalismus und Realismus. [5] Diese liefert auch die vorliegende Publikation nicht. Obwohl Weisbergs Kapitelüberschriften anderes suggerieren, eine "Neubestimmung des Naturalismus" (18) bleibt aus, und an ihre Stelle tritt die weitläufige und in der Abfolge der Kapitel leider von vielen Wiederholungen und Unausgewogenheiten bestimmte Darlegung der Bedeutung der Fotografie und des frühen Films für die naturalistische Malerei und vice versa. Weisberg, der sich in seinen Schriften als eine Art 'Promoter' des Naturalismus zu erkennen gibt, entfaltet in lockerer Folge der Themen und Künstlernamen ein Panorama, das von der Fotografie zu Émile Zola, von naturalistischen Theateraufführungen zu den Anfängen des Stummfilms führt und schließlich in die pauschalisierende Feststellung mündet, nur das Medium "Film" sei in den 1920er-Jahren "in der Lage" gewesen, "die breiten Massen zu erreichen, denn es spiegelte den Willen und die Stimme des Volkes wider" (28). Die Ambitionen naturalistisch arbeitender Maler, "die breiten Massen zu erreichen", steht im Zentrum auch des Kunstbegriffs Weisbergs, der nicht müde wird, zu behaupten (mehr als zu belegen), dass es im Gegensatz zu den "Strömungen der Avantgarde" den Naturalisten mit ihrer "Schilderung des Alltags der einfachen Menschen und [mit der] Wiedergabe der sozialen Wirklichkeit" (13) vermittels einer "Verschmelzung von Illusion und Realität" gelungen sei, ihre "Gemälde ins kollektive Gedächtnis unauslöschlich [einzuprägen]" (19).
Aufzählenden Charakter hat seine Darstellung der Gattungen und Themen des Naturalismus in "Naturalistische Themen in Zeiten des Umbruchs" (44) und auch die Kapitel zur zeitgenössischen "Rezeption" (82) sowie zum "naturalistischen Film" (140) gehen nicht wesentlich über das hinaus, was zuvor oder in anderen Kapiteln etwa von David Jackson zu "Russland und die nordischen Länder" (100) ausgeführt wird. Es können hier nur zwei Themen hervorgehoben werden, deren kritische Reflexion aufschlussreich gewesen wäre, die jedoch an vielen Textstellen nur benannt werden, so als wichen die AutorInnen einer eingehenderen Analyse aus, um keine Missklänge im Loblied auf den Naturalismus zu Gehör zu bringen. Eine sich durchweg aufdrängende Frage betrifft die oft überdeutlichen Rückgriffe der Maler auf die akademische Tradition (31f.). Seien es Arbeiter in der Fabrik, Bauern auf dem Feld oder Bettler auf der Straße: Neben dem naturalistisch-abbildlichen und pathetisch-theatralischen Zugriff auf reale Erscheinungsweisen von Menschen dominiert regelmäßig die akademische Pose, frei nach dem Aktzeichnen an den Akademien und Kunstschulen der Zeit. Gerade das Konventionelle und Gekünstelte dieser Körperhaltungen aber steht in deutlichem Gegensatz zu Weisbergs idealistischer Sicht auf naturalistische Gemälde, die vor allem "nüchtern", "natürlich" und "ungezwungen" (24, 91) seien.
Spannend wäre es gewesen, zu erfahren, wie die Modernität der Naturalisten, ihr vorgeblich "progressive[r] naturalistische[r] Stil" (79) mit ihrer Verwurzelung im Akademismus der Zeit vermittelt ist (sodass auch die sonst kaum erklärliche Präsenz der Gemälde in den Pariser Salons nachvollziehbar wird). Problematischer aber erscheint eine (etwas versteckte) Tendenz Weisbergs, die genannte Modernität des Naturalismus damit zu belegen, dass die Künstler desselben auf dem neusten Stand der Technik waren (Fotografie, 42f.), an anderer Stelle aber gerade die Hervorbringungen der frühen Filmregisseure im Bezug zu naturalistischen Gemälden abzuwerten (142, 153), sodass schließlich - etwas überspitzt formuliert - der Eindruck entstehen kann, das Medium Film am Anfang des 20. Jahrhunderts hätte vornehmlich die Funktion gehabt, den sozial engagierten Malern des Naturalismus auch künstlerisch zur Zeitgenossenschaft zu verhelfen (welche von KunstwissenschaftlerInnen bis heute regelmäßig ignoriert werde).
Illusions of Reality. Naturalismus 1875-1918 ist ein reich bebilderter Katalog, der durchaus als Einführung vor allem in die französische und nordamerikanische Malerei des Naturalismus im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts Geltung beanspruchen kann. Gabriel P. Weisbergs Kenntnisse in diesem Feld sind gerade bezüglich der internationalen Verflechtungen der Künstler beeindruckend, gleichwohl fehlen die prägnanten Thesen und ihre für und wider abwägende Begründung, die eine "Neubestimmung" hätte erwarten lassen. Darüber hinaus wird das Lesevergnügen der Übersetzung ins Deutsche dadurch getrübt, dass stellenweise der Eindruck entsteht, Autoren, Herausgeber und (Belser) Verlag hätten auf ein Korrektorat ganz verzichtet. So ist die vergleichende Lektüre der englischsprachigen Ausgabe unumgänglich, sei es, um sicherzustellen, dass es sich 1876 nicht um die "zweite expressionistische [sic!] Ausstellung" (15) gehandelt hat, oder einfach aus Neugierde, welcher Wortlaut im Original für "eine tonalistischere Wiedergabe einer Frau" (49) zu finden ist ("a more tonalist rendition of a woman").
Dass es auch anders geht, zeigen die substanziellen Texte des bereits erwähnten David Jackson zum Naturalismus in Russland, Finnland und Dänemark (100) und die Ausführungen von Maartje de Haan zu "Die niederländische Malerei und der Naturalismus" (154). Letztere benennt nicht nur in erfrischender Manier einige naturalismuskritische Positionen (159), sondern konstatiert am Schluss ein wenig lakonisch: "Wir können daher folgern, dass der Naturalismus nur einen verhältnismäßig geringen Einfluss auf die niederländische Kunst des 19. Jahrhunderts gehabt hat" (159). In einem Katalog, der insgesamt von einem geradezu insistierenden Enthusiasmus für den Naturalismus getragen wird, dessen "Sujets" schon im Vorwort als "universell relevant" (10) bezeichnet werden, liest man das mit einer gewissen Erleichterung.
Anmerkungen:
[1] László Moholy-Nagy: Malerei. Fotografie. Film, Bauhausbücher, Bd. 8, München 1925.
[2] The Realist Tradition. French Painting and Drawing 1830-1900, Indiana 1980.
[3] Beyond Impressionism. The Naturalist Impulse, New York 1992.
[4] Expanding the Boundaries. Selected Drawings from the Yvonne & Gabriel P. Weisberg Collection, Minneapolis 2008.
[5] Boris Röhrl: Kunsttheorie des Naturalismus und Realismus, Hildesheim / Zürich / New York 2003, 68.
Marvin Altner