Valérie Kobi (Hg.): Von der Theorie zur Praxis. Theorien und ihre Umsetzung im Zeitalter der Aufklärung. Akten des internationalen Kolloquiums in Neuenburg, 10-12. Dezember 2009 (= Travaux sur la Suisse des Lumières; Vol. XIII), Genève: Éditions Slatkine 2011, 300 S., ISBN 978-2-05-102213-2, CHF 60,00
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Der vorliegende Sammelband gruppiert die Akten des internationalen Kolloquiums, das vom 10. bis 12. Dezember 2009 in Neuchâtel stattfand und das neben der Herausgeberin Pascal Griener, François Rosset und Simone Zurbuchen organisiert hatten, um vier Achsen: die "Begründung von Methoden", die "Übermittlung und Aneignung von Wissen", den "Gebrauch von Wissen" und die "Probleme der Theorie".
Der erste Teil zur "Begründung von Methoden" beschäftigt sich mit der Theoretisierung, dem Argumentefinden und Diskursbilden, des Theorielosen: mit der Ästhetisierung der Skulptur in der Literatur am Beispiel Chateaubriands und seines heimlichen Dialogs mit Winckelmann auf der Suche nach der Verkörperung des Geschmacks (Laurent Darbellay, "Chateaubriand et la sculpture"), mit der feinen Beschreibung, wie die Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts mehr und mehr zwischen einem Rom der Menschen und einem Rom des Ideals, der Geschichte und der Kunst unterschied (Rosella Baldi, "Voir et dire une Rome d'hommes et une Rome de choses"), mit der zeitgenössischen Erörterung von Handwerk, Kunst, Kunsthandwerk und Handwerkskunst, der Kunst aus einem Guss (Valérie Kobi, "Écrire l'œuvre d'art. La statue équestre du roi Louis XV selon Pierre-Jean Mariette"), mit dem Diskurs, der Forderung und praktischen Umsetzung, Ertrunkene zu reanimieren (Anton Serdeczny) und mit dem Glücksspiel, als Problem der Mathematisierung und der Moral zugleich, das mit seiner Rationalität der Unvernunft, die Vernunft der Aufklärung herauszufordern begann (Julien Guillemet).
Der zweite Teil reflektiert Werkzeuge zur "Übermittlung und Aneignung von Wissen": Korrespondenz, Pädagogik, Metaphorik und Ideologie. Marie-Claire Hoock-Demarle macht einen Wandel von der Informationskorrespondenz hin zu einer gruppen- und identitätsbildenden Korrespondenz in der Sattelzeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus. Jasmin Schäfer untersucht, wie der Kinderbuchautor Christian Salzmann und sein Buchillustrator Daniel Chodowiecki Ideen Christian Wolffs und Moses Mendelssohns umgesetzt haben. David McCallam zeigt, nicht zuletzt an der Berggeographie Philippe Buaches, wie sehr die Vorstellung einer Kette des Seins im 18. Jahrhundert noch erklärungsleitend gewesen ist, bis empirische Befunde Löcher in das vorgegebene, tradierte Erwartungsmuster rissen. Aurélie Luther verfolgt, wie sich Idealisierung und empirische Beschreibung der Schweiz, die Idee des erhabenen, einfachen, reinen, natürlichen Landescharakters und die geographische und botanische Landesaufnahme, neben- und miteinander ausgebildet haben - ohne sich zu stören.
Der dritte Teil "Gebrauch von Wissen" geht der Frage nach, wie Wissen praktisch umgesetzt werden sollte. Franck Salaün folgt den Gedankengängen Holbachs und Diderots: Was tun, wenn die Realität der Vernunft nicht folgen will? Ist die Vernunft nicht falsch, braucht sie nicht am Ende einen neuen Diskurs und eine neue Realität - eine Revolution? Vanessa de Senarclens erörtert Rousseaus Kritik an d'Alemberts Wertschätzung des Theaters. Warum soll die Vorstellung der Laster zur Tugend führen? Les spectacles seien keine moralische Anstalt, sondern nur ein Spektakel. Linda Simonis beschreibt Montesquieus Rechtsbegriff vom Ideal geprägt, die geographischen und kulturellen Bedingungen vor Ort zu moderieren - und damit an praktischer Vernunft und nicht mehr theoretischer Natur orientiert. Muriel Brot zeigt, wie Guillaume-Thomas Raynal mit seiner Histoire des deux Indes Geschichte nutzte, um empirisches Unrecht einer philosophischen Legitimierung von Kolonialismus als Weltvervollkommnung entgegenzustellen. Charles Vincent skizziert das politische Verständnis Diderots in den 1770er Jahren. Sein Spätwerk habe sich gegen drei politische Despotismen gewandt, gegen Systemdenken, philosophische Schönfärberei und politische Tyrannen.
"Probleme der Theorie" schließen als vierter Teil den Band ab. Johannes Rohbeck spürt "Teleologie und Kontingenz in der Geschichtsphilosophie der Aufklärung" nach. Eva Kernbauer diskutiert "Öffentlichkeitsmodelle bildender Kunst", nicht zuletzt am Beispiel Charles Coypels, des Direktors der Académie royale de peinture et de sculpture. Aufklärung als Frage der Vernunft und Kunst als Frage der Ästhetik und des Publikums haben sich mehr und mehr als nicht deckungsgleich gezeigt. Eva Mayer betrachtet das "Spannungsverhältnis zwischen Poetologie und Dramatik" am Beispiel Houdar de la Mottes, der am Anfang der 18. Jahrhunderts als "Moderner" gegen das Alexandrinerdrama der "Alten" theoretisch und mit dramatischen Prosaversuchen vorging und damit, gelungen oder nicht, auf neue soziale Realität und Beschreibungserwartungen verwiesen hat. Élodie Cassan sieht die Encyclopédie der Logik Descartes', als primär einer Kunst zu denken, die kommunikationsbezogen und dynamisch die alten tradierten Formalismen überwindet, verpflichtet. Alexander Aichele erschließt den Philosophiebegriff Alexander Gottlieb Baumgartens. Er habe die Philosophie als die Wissenschaft, die sich, ohne sich auf den Glauben zu stützen, mit den Dingen beschäftige, von Mathematik, dem Wolffschen Universalitätsanspruch und der Religion getrennt, sie auf die Wahrscheinlichkeit beschränkt und so einen Schritt zum Praktischen, zu dem, was historisch der Fall ist, hingeführt.
Wie Wissen nützlich werden lassen, wie die Welt vervollkommnen? - Das ist die fundamentale Frage der Aufklärung gewesen, der Konsens, an dem sie sich ausgerichtet hat. Man hat es damit auch mit der ältesten und, wenn man so will, Allerweltsfrage der Aufklärung zu tun. Dennoch und vielleicht gerade deswegen ist mit "De la théorie à l'action" ein frischer, neue Perspektiven öffnender, in seinen Beispielen und Diskursen lebendiger, spannender Sammelband gelungen, der weit mehr Geschlossenheit aufweist als man bei einer Aufsatzsammlung in riesigem Feld erwartet. Man ist an die Ränder der aufklärerischen Theorien und ihrer Vernünfteleien gegangen - zum Handwerk der Aufklärung, zu ihrem Ringen mit Ertrunkenen, Hasard, Zufall, zur Widerborstigkeit der Aufzuklärenden, der Kunst und den sich einschleichenden Selbstzweifeln und Widersprüchen.
Die Autoren haben das auf den Punkt gebracht und auf je zehn Seiten kompakt, häufig als Ergebnis größerer Forschungsarbeiten, dargeboten. Das Ergebnis ist, dass Aufklärung, sobald sie praktisch wurde, über sich hinaus geführt hat: sie wurde zur Kunst; ästhetisierte sich. Sie setzte sich jenseits vernünftiger Vorüberlegungen um in die Empirie dessen, was der Fall war, etwa in die Pragmatik des Rechts. Sie reagierte auf und realisierte praktische Belange. Was anzumerken bleibt - weniger als Kritik, sondern als Eindruck, der gerade aus der hohen Qualität des Bandes hervorgeht: Den Autoren geschuldet, die aus der Philosophiegeschichte und besonders den Literaturwissenschaften und der Kunstgeschichte stammen (womit sollen sie sich beschäftigen, wenn nicht mit Philosophie, Literatur und Kunst?),- erscheinen Kunst, Literatur und philosophische Debatte die Praxis der Aufklärung auszumachen. Der Band ruft danach, Aufklärungsgeschichte ebenso zu einer Sache der Verwaltungs-, Sozial- und Wirtschaftshistoriker zu machen. Nicht, dass der Eindruck entsteht, die praktisch gewordene Aufklärung sei weniger in die Moderne, oder, wenn man so will, in Naturbeherrschung, ja auf ihrer Schattenseite in den Holocaust als vielmehr in das Feuilleton gemündet. Aber wer weiß, ob nicht auch das eine legitime - und den Kern keineswegs völlig verfehlende - Antwort wäre auf die Frage, was Aufklärung gewesen ist?
Martin Gierl