Marita Hübner: Jean André Deluc (1727-1817). Protestantische Kultur und moderne Naturforschung (= Religion, Theologie und Naturwissenschaft; Bd. 21), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 280 S., 27 Abb., ISBN 978-3-525-56942-9, EUR 90,95
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Aufklärer waren Monster oder, etwas weniger dramatisch, dafür mehr im Slogan unserer Zeit, hybrid. Sie kümmerten sich viel mehr darum, die Existenz Gottes nachzuweisen oder die wirkliche Existenz Gottes nachzuweisen oder die Existenz Gottes wirklich nachzuweisen, als um Aufklärung, wie sie den Meistererzählungen der Moderne entspricht. Weltlicher Fortschritt bedurfte in ihren Augen der Sicherung religiöser Tradition. Das hat der "Religionsverachtung" einer handvoll cleverer Selbstdarsteller die Bühne geöffnet, die Sprecher der Mainstreamaufklärer aus der Reserve gelockt, sie um Gott und die Welt wie um Gott und die Natur kreisen lassen. Jean André Deluc, der Genfer Topscientist, Mitglied aller möglichen Akademien, Wissenschaftspopularisierer, Vorleser der englischen Königin, führender Experte für Thermometer, Barometer und Höhenmessungen, Protogeologe und Meteorologe ersten Ranges, der sich - natürlich - mit Fossilien, Sintflut und Elektrizität beschäftigte, ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür. Marita Hübner hat seine Biographie geschrieben.
Sie verfolgt einen geographischen Ansatz, das heißt sie verbindet Lebensorte, Chronologie und die jeweiligen wissenschaftlichen Schwerpunkte Delucs. Die Biographie verknüpft dabei soziales, politisches und wissenschaftliches Engagement im Entwicklungsgang: Genf : Vater, Brüder, Kalvinismus, Uhrmacherei, Genfer Unruhen; Paris: Patriotismus und Barometer; London und Den Haag: gelehrtes Reisen, Deluc als Vorleser der Königin, Revolutionsgegner und seine Geologie für Frauen; Windsor: Kontaktpflege und Erweckungsbewegung; Göttingen: Elektrizitätstheorie, Instrumentenbau, Deluc als Gesandter mit politischer und religiöser Mission; Berlin: Delucs christliche Universalgeschichte, seine Verteidigung der Schöpfungsgeschichte und Sintfluttheorie.
Deluc habe darum gekämpft, die Kritik der Deisten und Aufklärer an der Bibel zurückweisen, er habe "protestantische Naturforschung" (211ff.) betrieben. Dabei sei es um die (göttliche) Geschichtlichkeit der Natur, Biblizismus, instrumentelle Naturerfahrung, die helfen soll, die Natur als Textbuch Gottes zu entschlüsseln, gegangen. Missionarischer und ökumenischer Charakter habe sich mit Modernität - dem Willen zu neuester Theorie, Observation und Instrumenten - und reformatorischem Selbstverständnis - der Praxis Pietatis des 17. Jahrhunderts in neuer Form - gepaart.
Wenn Deluc zur einen Hand mit Voltaire, Rousseau, Priestley, Burke korrespondierte - also sozusagen in der obersten Spielklasse spielte - zur anderen Hand Texte wie ein Sendschreiben an die jüdischen Hausväter publizierte, in dem er innerhalb des Streits um jüdische Bürgerrechte die Verteidigung des alten Testaments unternimmt, so ist das nicht Aufklärungsexzentrik, sondern ein sprechendes Beispiel für deren Wesenskern. Die Aufklärung hat die Welt neu interpretiert und damit Ideologie wie Wissenschaft geschaffen. Entstanden sind die neuen Theorien wie die Wirksamkeit der Aufklärung jedoch nicht aus sich selbst, sondern weil die Verbindung von Kommunikation und Autorität, die den Diskursen zugrunde lag, verpflichtende Themen, Themenverbindungen und Argumentationssets generierte, und mit ihnen Kommunikation und Autorität weiter und weiter auskristallisierte. Bruchlinien und Fokussierungen entstanden: so die Diskussion um Babel und die Entwicklung von Nationalsprachlichkeit, die Diskussion um Menschenrassen und die Diskussion um die Fossilien, die Sintflut und die Dauer der Welt. Neue Physik und dabei à la Deluc neue Batterien und meteorologische Instrumente zu entwickeln und zugleich die geologische Wahrheit der Sintflut zu verfechten, war im Rahmen der Aufklärung ein notwendiger Schritt.
Es ist Marita Hübner gelungen, weit mehr zu verfolgen als nur das Leben eines protestantischen Naturhistorikers, der im 18. Jahrhundert von Bedeutung gewesen ist. Ihr Buch zeigt, wie gewinnbringend die Verbindung von Wissenschaft und Kontext weiterhin insbesondere dann ist, wenn man den Kontext im umfassenden Sinn zu erörtern vermag. Das heißt, wenn man Wissenschaftsgeschichte nicht nur mit dem zeitgenössischen Diskurs allgemein verbindet. Sondern den Diskurs mit der sozialen Lebenswelt vor Ort und diese mit dem politischen Geschehen und der sozialhistorischen Matrix von Geschichte zusammenbringt. Erst dann begreift man wirklich, wovon die Rede gewesen ist, wenn von Thermometern, Elektrizität und Sintflut die Rede war.
Martin Gierl